Meiner Tochter Johanna gewidmet
Published online by Cambridge University Press: 05 February 2009
In den vergangenen beiden Dezennien hat, wenn ich recht sehe, die Diskussion darüber, welcher literarischen Gattung das lukanische Geschichtswerk bzw. die Apostelgeschichte zuzurechnen seien, an Intensität zugenommen. Meist ging man davon aus, daß das lukanische Werk, besonders aber die Apostelgeschichte, in den Kontext der antiken Geschichtsschreibung gestellt werden müss-ten, etwa, indem man das Gesamtwerk als ‘popular “general history” written by an amateur Hellenistic historian with credentials in Greek rhetoric’ definierte oder die Apostelgeschichte als historische Monographie klassifizierte, ähnlich den Werken Sallusts und entsprechend dem von Cicero, Ep. ad fam. V 12.2–3 vorgetragenen Programm. Dieser Konsens – wenn er denn wirklich je bestanden haben sollte – wurde dann aber durchbrochen, zunächst von Charles H. Talbert, der das Doppelwerk in den Kontext der Biographie, insbesondere der Philosophenbiographie, stellen wollte, und neuerdings hat man wieder einmal gemeint, die Apostelgeschichte in die Nähe der apokryphen Akten rücken und in ihr so etwas wie einen historischen Roman entdecken zu sollen.
1 Aune, D. E., The New Testament in Its Literary Environment (Philadelphia: Westminster, 1987) 77.Google Scholar
2 Vgl. Conzelmann, H., Die Apostelgeschichte (HNT 7; 2. Aufl.; Tübingen: Mohr-Siebeck, 1972) 7Google Scholar; Plümacher, , ‘Die Apostelgeschichte als historische Monographie’, in: Les Actes des Apôtres. Traditions, rédaction, théologie (ed. Kremer, J.; BEThL 48; Gembloux: Duculot, 1979) 457–66.Google Scholar
3 Vgl. Buch, z.B. seinLiterary Patterns, Theological Themes, and the Genre of Luke-Acts (SBLMS 20; Missoula, MT: Scholars, 1974).Google Scholar
4 Pervo, R. I., Profit with Delight. The Literary Genre of the Acts of the Apostles (Philadelphia: Fortress, 1987).Google Scholar
5 Apg 2.14–39; 3.12–26; 4.9–12; 5.29–32; 10.34–43 und 13.16–41.
6 SHAW.Ph 1949,1 = Dibelius, Aufsätze zur Apostelgeschichte (5. Aufl.; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1968) 120–62Google Scholar. Zitate: Aufsätze, 121 und 142.
7 Aufsätze, 142. Zustimmend: Luschnat, O., ‘Thukydides der Historiker’, PRE Suppl 12 (1970) 1085–1354Google Scholar, hier: 1299–1301. Zu den Schwierigkeiten, die der Einschätzung des Actaverfassers als (indirekten!) Thukydidesnachfolgers aus den unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten des thukydideischen Redensatzes I 22.1 (dazu auch Luschnat, ‘Thukydides’, 1162–83) erwachsen, s. jetzt Porter, S. E., ‘Thucydides 1.22.1 and Speeches in Acts. Is There a Thucydidean View?’, NT 32 (1990) 121–42.Google Scholar
8 ‘Hier befinden wir uns jedenfalls auf dem Boden einer Tradition, die mit der antiken Geschichtsschreibung nichts zu tun hat’ (Aufsätze, 142).
9 Die Missionsreden der Apostelgeschichte. Form- und traditionsgeschichtliche Unter-suchungen (WMANT 5; 3. Aufl.; Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1974).Google Scholar
10 Eingehend erörtert werden Aufbau, Gliederung und Rahmen der Reden, ebenso die Frage nach dem Einzelstoff, den sie enthalten, sowie die weitere nach ihrem traditions-geschichtlichen Hintergrund.
11 Missionsreden, 95–6.
12 So hat G. Delling in seiner Besprechung von Wilckens' Buch gegen dessen Interpretation von Apg 10.34–43 eingewandt: ‘Mit einem Wendepunkt haben die Ereig-nisse von Ag. 10 in der Tat zu tun; aber die Wende kommt außer in VV. 34f. … der Rede vor allem in dem sonstigen Inhalt von Ag. lOf. zum Ausdruck’ (ThLZ 87 [1962] 840–3Google Scholar, hier: 841. Hervorhebung E.P.). C. Burchard lehnte Wilckens’ Ansicht, ‘daß es der Zweck der Reden sei, das Wort als movens der Heilsgeschichte vorzustellen’, sogar rundweg ab (Der dreizehnte Zeuge. Traditions- und kompositionsgeschichtliche Untersuchungen zu Lukas' Darstellung der Frühzeit des Paulus [FRLANT 103; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1970] 142, Anm. 27).Google Scholar
13 Zumindest ein Exeget ist diesem Mißverständnis zum Opfer gefallen: Wendt, H. H., Die Apostelgeschichte (KEK 3; 5. Aufl.; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1913) 185Google Scholar z. St. Schneider, G., Die Apostelgeschichte 2. Teil (HThK 5,2; Freiburg/Basel/Wien: Herder, 1982) 80 z. St. sieht immerhin die Möglichkeit solchen Mißverstehens.Google Scholar
14 ‘Tòν λóγον meint ersichtlich die soeben von Petrus gehaltene Missionspredigt’: Haenchen, E., Die Apostelgeschichte (KEK 3; 7. Aufl.; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1977) 340 zu V. 44.CrossRefGoogle Scholar
15 Das heißt: ‘die christliche Predigt’: Haenchen, Apostelgeschichte, 397 z. St.
16 Lukas als hellenistischer Schriftsteller. Studien zur Apostelgeschichte (StUNT 9; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1972) 36Google Scholar; ‘Apostelgeschichte’, TRE 3 (1978) 483–528, hier: 505.Google Scholar
17 Daß diese Interpretation zutreffend ist, zeigt auch die Parallelität mit λλ λóγοις πεíσαντες VII 66.3, vgl. unten.
18 VII 66.1: μήκυνα δ τòν ύπρ αὐτν λóγον.
19 Dazu Stählin, W. Schmid–O., Geschichte der griechischen Literatur II 1 (HKAW VII 1; München: Beck, 1920) 466–72.Google Scholar
20 De Thuc. 13 (839) p. 343 Usener–Radermacher.
21 De Thuc. 17 (848) p. 349–50 Usener–Radermacher.
22 De Thuc. 14 (842–3) p. 346 Usener–Radermacher. Daß Thukydides auch anders kann, gesteht ihm Dionys zu. Aber gerade das ruft seine Kritik auf den Plan (14–15 [843–4] p. 346–7 Usener–Radermacher)!
23 Vgl. XI 1.2: Die Leser einer στορíα verlangten, κα τς αἰτíας κοσαι, δι' ἅς τ θαυμαστ κα παρáδοξα ἔργα πετέλεσαν.
24 De Thuc. 14 (843) p. 346 Usener–Radermacher.
25 Tινες stünde in diesem Fall ‘als unbestimmter Ausdruck für einen zu klaren Singular’: E. Schwyzer–A. Debrunner, Griechische Grammatik Bd 2 (HAW II 1.2; München: Beck, 1950) 45. – Darüber, ob Dionys' Vorwürfe gegen Thukydides berechtigt sind oder nicht (wohl eher letzteres), ist hier nicht zu handeln, doch vgl. Pritchett, W. K., Dionysius of Halicarnassus. On Thucydides (Berkeley/Los Angeles/London: Univ. of California, 1975) 64–70.Google Scholar
26 Dementsprechend forcnuliert Dionys auch schon im Proömium, Ant. I 8.2: φηγομαι δ τοὺς τε òθνείους πολέμους τς πόλεως … κα τς μφυλίους στάσεις πόσας στασίασεν, ξ οἵων αἰτιν γένοντο κα δι' οἵων τρόπων τε κα λόγων κατελύθησαν.
27 ‘Rhetorical Approaches to Greek History Writing in the Hellenistic Period’, SBL Seminar Papers 23 (1984) 123–33Google Scholar, hier 129 bzw. 131. Vgl. Dens., ‘Rhetoric and Speeches in Hellenistic Historiography’, At. NS 64 (1986) 383–95.Google Scholar
28 Er war ein Meister in der Komposition solcher Reden, deren literarische Funktion darin bestand, entscheidende geschichtliche Prozesse in Gang gesetzt zu haben (einige Beispiele bei Plümacher, Lukas, 36–7). In seinem Werk hat Livius allerdings nicht wie Dionys über sein Tun reflektiert; derlei war bei römischen Historikern unüblich. ‘Wenn wir die methodischen Überlegungen und Praktiken der verschiedenen (sc. römischen) Historiker studieren wollen, sind wir also auf ihre Darstellung selbst angewiesen, von der wir ihre Arbeitsweise ablesen müssen’: E. Burck, ‘Grundzüge römischer Geschichtsauf-fassung und Geschichtsschreibung’, GWU 25 (1974) 1–40, hier: 10 = Ders., Vom Men-schenbild in der römischen, Literatur. Ausgewählte Schriften Bd 2 (Heidelberg: Winter, 1981) 72–117Google Scholar, hier: 82.
29 Schwartz, E., ‘Dionysius von Halikarnassos’, PRE 5 (1905) 934–61Google Scholar, hier: 946. Vgl. Klotz, A., ‘Livius und seine Vorgänger’, in: Neue Wege zur Antike II 11.3 (Leipzig/Berlin: Teubner, 1941) 201–303, hier: 218–72.Google Scholar
30 ‘Comments on the Genre and a Political Theme of Luke–Acts. A Preliminary Comparison of Two Hellenistic Historians’, SBL Seminar Papers 28 (1989) 343–61, hier: 361.Google Scholar
31 Die Apostelgeschichte, 110–11.
32 Vgl. dazu Plümacher, , TRE 3, 518–20Google Scholar; Dens., ‘Acta-Forschung 1974–1982’, ThR NF 48 (1983) 1–56, hier: 45–6 und insbesondere die an beiden Orten genannte Literatur.Google Scholar
33 I 4.2; 5; vgl. I 89.1–2; II 17; VII 70.1. Geschichtsschreiber: I 4.3; vgl. Livius IX 18.6.
34 I 4.2. Zur antirömischen Propaganda: Schwartz, , PRE 5, 959–60Google Scholar; Fuchs, H., Der geistige Widerstand gegen Rom in der antiken Welt (2. Aufl.; Berlin: de Gruyter, 1964) 13–19; 40–7.Google Scholar
35 Vgl. Schwartz, , PRE 5, 960.Google Scholar
36 I 5.2–3; vgl. XX 6.1: Dionys läßt Pyrrhos eingestehen, im Krieg gegen Rom πρòς νθρώπους σιωτάτους (conj. σιωτέρους) ‘Eλλήνων κα δικαιοτάτους (conj. δικαιοτέρους) ge-kämpft zu haben.
37 VII 66.4–5. – Indem die Römer damals so gehandelt hatten, wie von Dionys behauptet, hatten sie gleich ihrem Stammvater Romulus ein politisches Ideal erfüllt, das im politischen Leben, wie Dionys in II 18.1 bemerkt, nur selten Wirklichkeit wurde, denn: θρυλοσι μν ἅπαντες οί πολιτικοί, κατασκευάζουσι δ' λίγοι, πρτον μν τν παρ τν θεν εὔνοιαν … ἔπειτα τν σωφροσύνην τε κα δικαιοσύνην, δι' ἅς ἦττον λλήλους βλάμτοντες μλλον όμονουσι. Vgl. außerdem II 62.5.
38 Ein weiterer Zweck der Römischen Archäologie bestand auf alle Fälle darin, hier ‘ein παράδειγμα des Klassizismus’ zu liefern (Schwartz, , PRE 5, 934Google Scholar, vgl. 938–9). Außerdem könnte Dionys gleich Horaz, Livius oder Vergil als Propagandist der augusteischen Prinzipatsideologie zu wirken gesucht haben. P. M. Martin hat gezeigt, daß sich das ganze erste Buch der Antiquitates als ‘un hymne à la concordia et une démonstration par l'absurde de la folie des guerres civiles’ lesen läßt (‘La propagande augustéenne dans les Antiquités romaines de Denys d'Halicarnasse [Livre I]’, REL 49 [1971] 162–79Google Scholar). Sollte die Passage Ant. VII 66.4 auch in diesem Sinne zu verstehen sein? Dionys teilt hier ja nicht nur mit, daß die am Ständekampf beteiligten Parteien seinerzeit auf die Anwendung von Gewalt verzichtet hätten, sondern präzisiert: man habe damals auf seiten der δημοτικοί nicht versucht, sich gegen die πατρίκιοι zu erheben, viele der κράτιστοι zu töten und sich deren Besitz anzueignen, auf seiten der in Rang und Würden Befindlichen (d.h. der Patrizier) nicht, mit eigenen Machtmitteln oder sogar mit auswärtiger Unterstützung (ξενικα πικουρίαι) das δημοτικόν zu vernichten. All dies war aber im Bürgerkrieg ge-schehen: Senatorenmorde, Proskriptionen und auch die Mobilisierung einer auswärtigen Macht, nämlich Ägyptens, gegen Rom – so suggerierte es jedenfalls Octavians Propaganda, die Vergil folgendermaßen wiedergibt: hinc ope barbarica variisque Antonius armis / … / Aegyptum viresque Orientis et ultima secum / Bactria vehit, sequiturque – nefas – Aegyptia coniunx (Aeneis VIII 685–688). Und wenn Dionys den Gewaltverzicht der Vorfahren als ζηλοσθαι ὑπò πάντων νθρώπων ἄξιον preist, ist der Schluß nicht unmöglich, daß er seine Gegenwart von der hier von ihm reklamierten friedenswahrenden Eintracht aller geprägt sah und den consensus universorum bzw. omnium, auf den sich der Prinzipat des Augustus ideologisch stützte (dazu Instinsky, H. U., ‘Consensus universorum’, Hermes 75 [1940] 265–78Google Scholar; Altheim, F., Römische Geschichte Teil 2 [Berlin: de Gruyter, 1948] 103–31)Google Scholar, ähnlich, wie auch Livius das getan hat (vgl. Altheim, Geschichte, 123–5), durch den Nachweis seiner Vorabschattung in der frühen römischen Republik legitimieren wollte. Dionys' expressis uerbis erklärtes Ziel war freilich die Legitimierung der römischen Herrschaft, nicht die des Prinzipats.
39 Er will sich nicht vorwerfen müssen: δι' ἅς δ συνεχωρήθη τατ' αἰτíας παρέλιπον (66.2).
40 Vgl. 66.5: die Streitigkeiten seien πειθοῖ κα λόγῳ beigelegt worden.
41 66.3. Es folgt die Reflexion über die Pflicht des Historikers zur Überlieferung ge-schichtsbestimmender Reden.
42 Schwartz, , PRE 5, 958 bzw. 934.Google Scholar
43 Norden, E., Die antike Kunstprosa (2 Bde; 3. Aufl.; Leipzig/Berlin: Teubner, 1915–1918) 1.79 bzw. 2.884–5.Google Scholar
44 F. Overbeck, Nachlaß. A 207, Collectaneen zu den Synoptikern s.v. Lucasevangelium (Charakteristik). Historicismus, n 2 (zitiert nach Emmelius, J.-C., Tendenzkritik und Formengeschichte. Der Beitrag Franz Overbecks zur Auslegung der Apostelgeschichte im 19. Jahrhundert [FKDG 27; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1975] 182).Google Scholar