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Brechts Geste als transkulturelles Erkenntnismittel im Theater
Published online by Cambridge University Press: 14 June 2023
Summary
1. Epistemologische Annäherung
Um Brechts Geste als transkulturelles Erkenntnismittel epistemologisch aufzufassen, knüpfe ich in diesem Beitrag einerseits an Walter Benjamins Auslegung der epischen Theaterpraxis als die in Staunen versetzenden und gestischen Zustände an, die “mittels der Unterbrechung von Abläufen” vollbracht und entdeckt bzw. verfremdet werden: Dabei geht es auf der Grundlage der Verfremdungseffekte vor allem um ein theatrales Erkenntnisexperiment bzw. “ein lebendiges und produktives Bewusstsein,” dass es Theater sei, das darin bestehe, “die Elemente des Wirklichen im Sinne einer Versuchsanordnung zu behandeln und am Ende, nicht am Anfang dieses Versuchs stehen die Zustände.” Andererseits beruht meine Herausarbeitung der Erkenntnisfunktion des gestischen Theaters auf Günther Heegs Erläuterungen der transmedialen Anlage und des transkulturellen Potenzials der Geste bei Brecht: Bezug nehmend auf Brecht stellt Heeg fest, “wie wichtig für Brecht bei der Beschreibung seines eigenen Theaters der Weg über ein anderes, fremdes Medium und der Weg über eine andere, fremde Kultur sind. Man kann auch sagen: Brecht denkt im Anderen oder Brecht denkt das Andere im Eignen.” An Benjamin anlehnend, liegt die Geste Heeg zufolge außerdem in der Unterbrechung einer kulturellen Tradition, bzw. in “der katastrophischen Unterbrechung eines historisch-kulturellen Kontinuums” begründet. Nicht nur weisen diesbezüglich die Geste und das Medium ein “gebrochenes Verhältnis zum Ursprung” auf; zugleich entstehen beide, Geste wie Medium, in einem reziproken, “strukturellen Raum eines trans, das jedes einzelne Medium durchquert” und “jede feste Bindung an eine kulturelle Tradition und Gemeinschaft” erschüttert.
So betrachtet können in den Worten Heegs “die Praxis der Geste als eingreifende Haltung und das Modell eines gestischen Theaters … als wichtige Mittler für die Entwicklung transkultureller Umgangsformen wirken.” Auch wenn, wie Heeg formuliert, “von ihnen eine Praxis der gestischen Mediatisierung von Lokalem und Globalem, von Tradition und Innovation ihren Ausgang nehmen” kann, bleibt aber zu diesem Letzteren das “Denken-wie-üblich” in künstlerischen Prozessen der Verhandlung der gegenwärtigen Migrationsfrage im europäischen Theater der Gegenwart eine noch zu hinterfragende und zu überwindende Herausforderung für die Vielfalt transkultureller Identitäten.
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- The Brecht Yearbook / Das Brecht-Jahrbuch 46 , pp. 14 - 37Publisher: Boydell & BrewerPrint publication year: 2021