Published online by Cambridge University Press: 09 February 2021
Einleitung
In diesem Aufsatz will ich davon berichten, warum ich mich entschieden habe, an der Central Academy of Drama in Peking ein Seminar zu unterrichten, dass größtenteils auf einer Lektüre von Bertolt Brechts “Kleinem Organon für das Theater” (KO) beruht. Dafür werde ich im folgenden schlagwortartig in die Geschichte des chinesischen Sprechtheaters (huaju) einführen sowie die Brecht-Rezeption in China und die jüngeren Entwicklungen des chinesischen Gegenwartstheaters darstellen. Anschließend werde ich meine Lesart des KO darlegen, für die die Entstehungszeit dieses Textes prägend ist. Meine These ist, dass das KO zu einem wesentlichen Teil auch eine strategische Schrift ist, die Brecht in der Absicht verfasst hat, ein eigenes Theater(-ensemble) in der Sowjetisch Besetzten Zone (SBZ) bzw. der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zu etablieren. Zu diesem Zweck nähert sich die Rhetorik dieses Textes an vielen Stellen der Sprache sozialistischer Kulturpolitik an. Doch gleichzeitig führt Brecht mit dem widersprüchlichen Verhältnis von Gestus und Fabel im KO eine Dramaturgie für ein Theater ein, die sich einer parteipolitischen Vereinnahmung entziehen kann. Es ist zum einen das Studium dieses strategischen Sprachspiels zwischen Künstler und Staat über Ästhetik und Funktion von Theater, welches das KO für mich zu einem interessanten Studiengegenstand an einer chinesischen Kunstakademie macht. Doch darüber hinaus kann ein Studium des widersprüchlichen Verhältnisses von Fabel und Gestus dazu beitragen, den akademischen Theaterdiskurs Chinas, vor allem den der dortigen Theaterakademien, hin zu Praktiken chinesischer Theaterkünstler der Gegenwart zu öffnen, die unabhängig von staatlichen chinesischen Institutionen produzieren.
Das Sprechtheater (huaju) in China
Das Sprechtheater (huaju) gelangt Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts über Japan nach China. Die von chinesischen Auslandsstudenten 1906 in Japan gegründete “Frühlingsweidengesellschaft” führt 1907 in Tokio das erste Sprechtheaterstück der chinesischen Theatergeschichte auf: eine Adaption von Harriet Beecher Stowes Uncle Tom's Cabin mit dem Titel Die schwarzen Sklaven seufzen zum Himmel. Die von jungen Intellektuellen getragene “Bewegung für eine neue Kultur” (xin wenhua yundong) sieht im huaju ein Mittel, die alte “feudale” Kultur Chinas, die sie für das Scheitern der Republik mitverantwortlich macht, zu reformieren. Die Akteure der “Bewegung für eine neue Kultur” überschneiden sich vielfach mit denen der sogenannten “Vierten-Mai-Bewegung” (wusi yundong), die u.a. von Mao als Vorläufer der Kommunistischen Partei Chinas beschrieben worden ist.
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