Book contents
Die Alterität des Zuschauers. Das Theater braucht Widerstand – Bertolt Brechts Kritik am “Eintheatern”
from The Creative Spectator: Contributions Originating at the 2013 IBS Symposium in Porto Alegre, Brazil
Summary
Theater ist nicht nur eine Kunstform, sondern auch eine Institution – mehr oder weniger verankert in der Gesellschaft und abhängig von ökonomischen, kulturellen und politischen Einflüssen. In diesem Kontext, aber auch als eine viele andere Künste umfassende ästhetische Produktion, besteht immer die Gefahr, dass das Theater alles vereinnahmt, Widersprüche harmonisiert, den einfachsten Weg geht, sich anpasst und im Altbekannten und “Wohlgefälligen” (BFA 23, 66), wie Brecht es nennt, verharrt. Dieses zu vermeiden haben sich Regisseure, Musiker, Bühnenbildner und Schauspieler immer wieder bemüht; vor allem aber Theaterautoren forderten und fordern das Theater heraus, indem sie es mit inkommensurablen, widerspenstigen, sich verweigernden Texten konfrontieren. Auch Brecht hat schon in den 1930er Jahren dieses Problem erkannt und versucht dem entgegenzuwirken, dass das Theater “alles spielen kann: es ‘theatert’ alles ‘ein,’” wie er sagt. In seiner Nachfolge formuliert Heiner Müller:
Ich glaube grundsätzlich, dass Literatur dazu da ist, dem Theater Widerstand zu leisten. Nur wenn ein Text nicht zu machen ist, so wie das Theater beschaffen ist, ist er für das Theater produktiv und interessant…das Theater, so wie es ist, bedienen, das braucht man nicht neu zu machen, das wäre parasitär.
Brecht und Müller versuchen folglich mit ihren Theatertexten, ihrer Poetik und Sprache, aber auch mit ihren Kommentaren und theoretischen Überlegungen, dem Theater Widerstand zu leisten, und es damit zu radikalisieren, indem sie sich “querlegen” und Neues initiieren, Routine und Opportunismus dagegen verhindern; ihre Texte beliefern nicht das Theater, sondern stehen ihm fremd gegenüber.
Distanz durch Verfremdung – Zitation und Literarizität
Wichtige ästhetische Mittel in dieser Vorgehensweise sind vor allem die Verstärkung und Ausweitung von Distanz und Alterität. Zu diesem Zwecke schuf Brecht “in einer neuen Kette von Experimenten” “die Verfremdungstechnik,” den “sogenannte[n] epische[n] Darstellungsstil” und “das sogenannte gestische Prinzip” (BFA 22.1, 555-56). Dabei konstituiert sich Verfremdung vor allem durch die Episierung, das distanzierte Berichten und Zeigen, durch Fragmentarisierung und Montage, durch die Trennung von Schauspieler und Rolle sowie durch die Geste als “Dialektik im Stillstand,” die die Handlung unterbricht und damit “zitierbar,” also fremd macht. Gerade die Zitation ist für Brecht ein wichtiges literarisches Verfahren, wie er in der Keuner-Geschichte “Herr Keuner und die Originalität” (BFA 18, 18) darstellt. Zum einen weil das Zitieren eine andere, deutlich distanziertere Sprechweise impliziert als das theatralische Deklamieren und traditionelle Rezitieren (vgl. auch BFA 24, 87), zum anderen weil sich in diesem intertextuellen Vorgang ein besonders produktives Verhältnis von Eigenem und Fremden materialisiert.
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- The Brecht Yearbook / Das Brecht-Jahrbuch 39The Creative Spectator, pp. 74 - 89Publisher: Boydell & BrewerPrint publication year: 2016