Book contents
Bruchstücke eines (immer noch) kommenden Theaters (ohne Zuschauer). Brechts inkommensurable Fragmente Fatzer und Messingkauf
from The Creative Spectator: Contributions Originating at the 2013 IBS Symposium in Porto Alegre, Brazil
Summary
Spielen ohne Publikum – nach dem “anderen Brecht”
Ohne Zuschauer. “Wir spielten (in den Lehrstücken) ohne Zuschauer,” so hält Brecht 1937 im Rückblick fest, was die Radikalität seiner Lehrstücke ausmacht. “Prinzipiell ist für das Lehrstück kein Zuschauer nötig, jedoch kann er natürlich verwertet werden,” schreibt er an anderer Stelle im selben Jahr. “Sie benötigen so kein Publikum,” hält er noch 1956 über die Lehrstücke, speziell über die Maßnahme, fest. Sie sei “nicht für Zuschauer geschrieben worden,” nicht dazu da, gelesen zu werden, nicht dazu da, gesehen zu werden. (“Cette pièce n'est pas faite pour être lue. Cette pièce n'est pas faite pour être vue.”) Vielmehr sei sie eine Lockerungsübung für Dialektiker, “für die Darstellenden lehrhaft.” Und eben über dieses Stück wird er im selben Jahr, kurz vor seinem Tod, sagen, es sei “die Form des Theaters der Zukunft.”
Ein Lehrstück ohne Zuschauer, ohne Leser und selbst ohne Darsteller - so könnte man weitergehend das Fatzer-Fragment bezeichnen, über das Brecht an einer Stelle festhält:
so ist das fatzerdokument zunächst hauptsächlich zum lernen des schreibenden gemacht. wird es späterhin zum lehrgegenstand so wird durch diesen gegenstand von den schülern etwas völlig anderes gelernt als der schreibende lernte. ich der schreibende muss nichts fertig machen. es genügt, dass ich mich unterrichte. ich leite lediglich die untersuchung und meine methode dabei ist es, die der zuschauer untersuchen kann.
Eben dieses Fragment aber wird von ihm später, im Zusammenhang kritischer Bemerkungen über die “zu opportunistischen” Stücke Die Gewehre der Frau Carrar und Galilei mit der Bemerkung geadelt werden, dass es zusammen mit dem Brotladen “der höchste standard technisch” sei.
Die “Form des Theaters der Zukunft,” “den höchsten standard technisch,” so scheint es, sah Brecht selbst dort erreicht, wo er ein Theater ohne Zuschauer, Leser, Darsteller konzipierte, ein Theater zur Selbstverständigung, für Übende und vielleicht letztlich nur für den, der sich bei seinem Entwurf im Schreiben übte. In diesem Sinne beschrieb Heiner Müller in seinem Essay “Fatzer + Keuner” das Fatzer-Fragment, das er “Brechts größten Entwurf und einzigen Text” nennt, “in dem er sich, wie Goethe mit dem Fauststoff, die Freiheit des Experiments herausnahm, Freiheit vom Zwang zur Vollendung für Eliten der Mit-oder Nachwelt, zur Verpackung und Auslieferung an ein Publikum, an einen Markt. Ein inkommensurables Produkt, geschrieben zur Selbstverständigung.” Ein Text, der “nicht Denkresultate” formuliert, sondern den Denkprozess “skandiert.”
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- The Brecht Yearbook / Das Brecht-Jahrbuch 39The Creative Spectator, pp. 30 - 55Publisher: Boydell & BrewerPrint publication year: 2016