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Vom „Klassencharakter der Literatur“ zum „nationalen Kulturerbe“: Zum Zusammenhang von Kulturpolitik und Literaturwissenschaft in der DDR der siebziger und achtziger Jahre

Published online by Cambridge University Press:  28 February 2023

Matthew Philpotts
Affiliation:
University of Manchester
Sabine Rolle
Affiliation:
University of Edinburgh
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Summary

DER FOLGENDE TEXT geht von der Beobachtung aus, dass die kulturpolitisch angeleiteten Versuche, eine eigenständige DDRIdentität herauszubilden, schon lange vor 1989/90 gescheitert sind. In den 1980er Jahren beziehen sich kulturpolitische Veröffentlichungen der DDR zunehmend auf eine Idee der Einheit der kulturellen Überlieferung. Diese Idee artikulierte sich in einer Rhetorik, die das „Bewußtwerden der Verwurzelung der sozialistischen deutschen Nation in der ganzen deutschen Geschichte” anmahnte. Damit war der Versuch einer erbetheoretischen Legitimation deutscher Zweistaatlichkeit gescheitert, denn diese bezog sich auf eine Konzeption, die von der wesentlichen Heterogenität der kulturellen Überlieferung ausging. Die Vorstellung vom Erbe als „unteilbarer” Einheit stand von ihrer Logik her im Widerspruch zu den Versuchen, die staatliche Eigenständigkeit der DDR kulturell zu legitimieren.

Mit der Idee der Einheit der kulturellen Überlieferung scheint sich in der DDR ein kulturpolitisches Programm durchgesetzt zu haben, das in der Bundesrepublik seit den siebziger Jahren von konservativer Seite aus unter dem Titel der Einheit der deutschen „Kulturnation” betrieben wurde;4 in diesem Kontext steht auch die Konjunktur des Themas der „nationalen Identität” in der Bundesrepublik der achtziger Jahre.5 Mein Beitrag soll jedoch zeigen, dass das Konzept der Einheit der „Kulturnation” in der DDR nicht von außen übernommen wurde, sondern bereits in der Entwicklung eines Begriffs des „nationalen Kulturerbes” in Kulturpolitik und Wissenschaft der DDR angelegt war. Diese Deutung soll durch einen vergleichenden Blick auf Entwicklungstendenzen in der Erbetheorie und in der Literaturwissenschaft — hier vor allem der Germanistik — Evidenz gewinnen. Meine These lautet, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der erlebnis- und autonomieästhetischen Kritik an einem ideologiegeschichtlichen und gesellschaftswissenschaftlichen Selbstverständnis der Literaturwissenschaft, wie sie von Vertretern einer „humanistisch-normativen” Ästhetik seit Ende der siebziger Jahre entwickelt wurde, und der Durchsetzung des Konzepts der Einheit des Erbes in der Erbetheorie. Denn die ideologiegeschichtliche Betonung des Klassencharakters der Literatur war ein literaturwissenschaftliches Theorem, das geeignet war, die erbetheoretische These von der Heterogenität der Überlieferung zu begründen. Dagegen eigneten sich Kategorien des klassenneutralen „Allgemein-Menschlichen”, mit denen autonomieästhetische Konzeptionen ihrer inneren Logik nach arbeiten müssen, dazu, diejenigen erbetheoretischen Positionen zu begründen, die letztlich auf die Idee der Einheit der kulturellen Überlieferung hinauslaufen.

Ich werde zunächst auf die Entwicklung der Erbetheorie in der DDR eingehen. In einem zweiten Schritt werde ich dann bestimmte Entwicklungstendenzen in der Literaturwissenschaft der DDR seit den siebziger Jahren darstellen. Im Anschluss sollen diese Entwicklungen auf Verschiebungen und Brüche in der Erbetheorie bezogen werden, um so den Zusammenhang von „humanistisch-normativer” Kritik an einem Verständnis von Literatur- als Gesellschaftswissenschaft und der Konzeption der Einheit des Erbes zu belegen. Zum Schluss soll zusammenfassend die systematische Bedeutung eines solchen Zusammenhangs angesprochen werden.

Type
Chapter
Information
Edinburgh German Yearbook 3
Contested Legacies: Constructions of Cultural Heritage in the GDR
, pp. 162 - 183
Publisher: Boydell & Brewer
Print publication year: 2009

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