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Die Neuvermessung von Lyrik und Prosa in Goethes Novelle

from Special Section on What Goethe Heard, edited by Mary Helen Dupree

Published online by Cambridge University Press:  16 May 2018

Ehrhard Bahr
Affiliation:
University of California, Los Angeles
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Summary

IN SEINEM GESPRÄch mit Johann Peter Eckermann vom 18. Januar 1827 erklärte Goethe im Hinblick auf die Novelle, dass er “mit der Prosa jetzt am besten gefahren” sei. Aus der Vorgeschichte der Novelle ist bekannt, dass er 1797 im Anschluss an Hermann und Dorothea ein episches Gedicht in Hexametern unter dem Titel “Die Jagd” geplant hatte. Doch Schiller war gegen die Behandlung des Themas in Hexametern und riet zu achtzeiligen Stanzen. Dreißig Jahre später nahm Goethe das Thema der “Wunderbaren Jagd” wieder auf, wie er in seinem Tagebuch vom 4. Oktober 1826 notierte. Wilhelm von Humboldt teilte er wenige Wochen später mit, dass er den damals aufgegebenen Plan “prosaisch auszuführen” gedenke, “da es denn für eine Novelle gelten mag” (Brief vom 22. Oktober 1826). Dabei ergibt sich die Frage, warum Goethe das Thema der Novelle nicht vollständig in Prosa abgehandelt hat. Im Schlussteil der Novelle, vom Auftritt der Schaustellerfamilie an, geht die Textgestaltung von der Prosa teilweise ins Lyrische über und gipfelt in den Liedstrophen des Knaben der Schaustellerfamilie. Goethe unternimmt hier eine Neuvermessung von Prosa und Lyrik, die im Widerspruch zu seinen anfänglichen Werk-Aussagen steht. Er ging zu lyrischen Einlagen über, weil er die Prosa zur Vermittlung seiner Ideen nicht geeignet fand. Der Wechsel von Prosa und Lyrik steht also, so lautet mein Argument, in Zusammenhang mit der von Jane K. Brown herausgestellten dialektischen “Progression der Gattungshierarchie vom Realen zum Idealen.” Im Gegensatz zur neoklassizistischen Unterscheidung der Gattungen in der bildenden Kunst habe Goethe in der Novelle ein eigenes Konzept für die Literatur entwickelt, das das Reale dialektisch mit dem Idealen verbindet. Dabei wird das Reale der Prosa zugeschrieben und das Ideale der Lyrik, wobei das eine nicht ohne das andere fungieren kann.

Meine These besteht in der Annahme, dass Goethe mit der Novelle ein Modell eines gewaltlosen Kreislaufs beziehungsweise Austauschs von Gesellschaft und Natur zu vermitteln suchte, für das es seinerzeit keine Terminologie gab. Diese Lücke wurde erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Begriff der Ökologie geschlossen. Goethe hielt die Lyrik für die Vermittlung dieses Modells geeigneter als die Prosa, wie er im Gespräch mit Eckermann vom 18. Januar 1827 darlegte: “ein ideeller, ja lyrischer Schluß war nötig und mußte folgen; denn nach der pathetischen Rede des Mannes, die schon poetische Prosa ist, mußte eine Steigerung kommen, ich mußte zur lyrischen Poesie, ja zum Liede selbst übergehen.”

Type
Chapter
Information
Goethe Yearbook 25
Publications of the Goethe Society of North America
, pp. 289 - 298
Publisher: Boydell & Brewer
Print publication year: 2018

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