Published online by Cambridge University Press: 27 May 2021
Lenz als Intrigant
IN DER REZEPTION DES AUTORS Lenz und seiner Werke stehen sich noch immer zwei Sichtweisen unversöhnlich gegenüber, die ihren Ursprung in unterschiedlichen literarischen Texten haben. Mit seiner Erzählung Lenz (posthum 1839) entwarf Büchner ein sensibles Porträt von dem damals weitgehend vergessenen Autor, während Goethe in Dichtung und Wahrheit (1812) ein vernichtendes Urteil über seinen ehemaligen literarischen Weggenossen gefällt hatte. Goethe konnte sich als letzter noch lebender ‘Zeitzeuge’ des bereits 1792 Verstorbenen auf eine intime Kenntnis des Autors stützen, Büchner als ‘Nachgeborener’ kannte Lenz nur vom Hörensagen im Freundeskreis und aus der Lektüre seiner Werke, die Ludwig Tieck 1828 herausgegeben hatte. Diese beiden Erinnerungstexte—hier die ästhetisch wegweisende Novelle, dort die rückwärtsgewandten autobiographischen Aufzeichnungen—haben zwei konträre Rezeptionslinien begründet: Auf der einen Seite steht der geniale Außenseiter, dem Büchner mit seinem Schlüsseltext der literarischen Moderne ein so beeindruckendes Denkmal gesetzt hat, dass der historische Autor dahinter lange Zeit zu verschwinden drohte. Auf der anderen Seite steht der possenhafte Nachahmer, der nach einem on-dit von Karl August von Weimar nur der ‘Affe’ von Goethe gewesen sei und dessen Werke deshalb die Lektüre nicht lohnten, wie die ältere germanistische Forschung nicht müde wurde zu behaupten. In der Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen (1843) von Georg Gottfried Gervinus ist Lenz ein Autor, der sich selbst überschätzt hat:
Die Freundschaft mit Göthe riß ihn in den größten Dünkel und in einen blinden Wetteifer, um so mehr, je anerkannter in Göthe's Kreise sein Genie war; und je geringer später seine Leistungen, je größer Göthe's Ruhm ward, desto mehr mußte sich seine Rivalität zu Neid und Bosheit steigern […] oder […] zur Selbstverachtung zurücksinken.
Noch weiter geht Adolf Bartels in seiner Geschichte der deutschen Literatur (1909), wo der Leserschaft ein ähnlich unrühmliches Ende wie dem Autor prophezeit wird:
Aber wehe dem, der den wirklichen Unterschied zwischen einem Goethe und einem Lenz nicht sieht oder nicht sehen will, der auf Rechnung des Glücks zu setzen sich erdreistet, was die Natur von Anbeginn bestimmt hat und sittlicher Wille vollendet! Auch er wird zu Grunde gehen, wie Lenz zu Grunde ging […].
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