Published online by Cambridge University Press: 28 February 2023
BIS ZUM ENDE ihres Bestehens gab es in der DDR keine mit der gattungstheoretischen Auseinandersetzung in der Bundesrepublik der 70er- und 80er-Jahre vergleichbare Gattungsdiskussion. Die wenigen Beiträge, in denen das Problemfeld „Gattungsästhetik” thematisiert wurde, standen zumeist mit dem allgemeinen Diskurs um eine marxistische Ästhetik im Zusammenhang. Sie finden sich als „Splitter” in Monografien oder Sammelbänden, und außer der Darstellung des sowjetischen Philosophen Moissej Kagan gehen sie im Allgemeinen nicht über skizzenhafte Entwürfe einer Gattungstheorie hinaus. Dies ist umso erstaunlicher, als die Gattungen zum Bestand des „Erbes” gehören und als Elemente der Inhalt-Form-Dialektik einen wesentlichen Bestandteil des sozialistischen Realismus darstellen.
Dieter Schlenstedts Überlegungen zur Gattungskonstitution, die hier betrachtet werden sollen, wurden 1979 in seinem Band Wirkungsästhetische Analysen veröffentlicht. Sein Beitrag kann in mehrfacher Weise als typisch für den Umgang mit der Frage der Gattungen in der DDR gelten: Es geht um eine Kanonerweiterung im Erbe-Verständnis angesichts der damals neuesten Literatur und um deren ästhetische Verteidigung gegenüber einer immer noch existierenden konservativen Realismus- und Abbildauffassung. Damit zielt seine Darlegung auch auf die Zurückweisung des Urteils „modernistisch”, mit dem sich die Kritiker der neuen DDR-Literatur auf einen normativen Ästhetikbegriff berufen.
Schlenstedt beachtet dabei durchaus die Regeln des wissenschaftlichen Diskurses in der DDR, denn sein gattungstheoretischer Ansatz ist dem klassischen Erbe ebenso verbunden, wie er auch an die marxistische Geschichtsphilosophie anknüpft. Zugleich aber bricht sein Gattungsbegriff mit dem lukácsschen Diktum der inneren Form; Schlenstedt stellt ihn stattdessen in die Tradition der brechtschen „Materialästhetik“ und erschließt darüber ein strukturell-funktionales Formverständnis der Gattungen: Vom Goethe des West-Östlichen Divan ausgehend, über Jurij Tynjanow und Roman Jakobson bis zum genetischen Strukturalismus Jean Piagets in der Rezeption Lucien Goldmanns erfolgt damit auf wissenschaftstheoretischer Ebene auch eine Auseinandersetzung mit einem avantgardistischen Theorie-Erbe, dessen „Aneignung” nicht nur ein kommunikativ-funktionales Verständnis von Gattungen anstrebt, sondern darüber hinaus auch die Vermittlung von russischem Formalismus und Strukturalismus an den sozialistischen Realismus leisten soll.
Ästhetische und literaturwissenschaftliche Voraussetzungen einer Gattungstheorie in der DDR
Die 70er-Jahre gehörten in der DDR auf literaturwissenschaftlichem und ästhetischem Gebiet zu den produktivsten und progressivsten, was zu weiten Teilen dem Zentralinstitut für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR zu verdanken war: Dem Entwurf der Rezeptionsästhetik in Gesellschaft Literatur Lesen 1973 folgten 1975 Funktion der Literatur, 1979 Künstlerische Avantgarde und im selben Jahr Wirkungsästhetische Analysen.
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