I. Fragestellung und Forschungsstand
I.I Fragestellung
Es sind ohne Zweifel das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte selbst, die ihre Leserinnen und Leser mit der Frage nach der Bedeutung Jerusalems und seiner Bewohner konfrontieren.Footnote 1 Der Name der Stadt kommt etwa 90 Mal und damit überaus häufig vor, noch dazu in zwei Versionen.Footnote 2 Die narrative Raumkonfiguration des Evangeliums stellt diese Stadt und ihren Tempel, mit dem sie in der Vorstellung unlösbar verbunden ist, in den Mittelpunkt.Footnote 3 Ihre Bewohner werden in der für Lukas so typischen Geschlechtssymmetrie als „Männer, die in Jerusalem wohnen“ (13,4: οἱ ἄνϑρωποι οἱ κατοικοῦντɛς ᾿Ιɛρουσαλήμ) und „Töchter Jerusalems“ (23,28: Θυγατέρɛς ᾿Ιɛρουσαλήμ) bezeichnet und finden immer wieder Erwähnung.Footnote 4 Die Apostelgeschichte behält diese Orientierung nach Jerusalem bei. Es verschiebt sich aber die Perspektive. Die Rede und Ermordung des Stephanus schließen die Abfolge der negativen Erfahrungen der Apostel im Tempel ab und erklären deren Abwendung von ihm.Footnote 5 Mit Apg 8,1 verlagern sich die Ereignisse vom Tempel und teilweise auch von der Stadt weg. Der Blick des Lesers wird auf Samaria, Syrien, den östlichen Mittelmeerraum und schließlich auf Rom ausgerichtet.Footnote 6 Die Rückbindung nach Jerusalem bleibt aber erhalten (Apg 18,22; 19,21). Sie wird über die Jerusalemer Ereignisse hinaus (Apg 21,15–23,31) zudem reflexiv dadurch hervorgehoben, dass in der ersten Nacherzählung des Damaskuserlebnisses in Apg 22,6–21 abweichend von den Darstellungen in 9,3–19.26–30 und 26,12–20 der Tempel von Jerusalem als Ort der Beauftragung des Apostels genannt wird.Footnote 7 Nach Apg 22 berichtet Paulus den im Tempel versammelten Repräsentanten eines tief empfundenen Judentums, die wie der lukanische Paulus selbst für das Gesetz und diesen heiligen Ort einzutreten bereit sind (Apg 22,3: ζηλωτὴς τοῦ ϑɛοῦ), er habe im Tempel in besonderer Nähe zur transzendenten Sphäre, d.h. zum geschichtslenkenden Gott und seinem Geist, im Zustand des „Außersichseins“ (22,17: ἔκστασις), den Auftrag erhalten, „zu den (nichtjüdischen) Völkern in der Ferne“ zu gehen (22,21).Footnote 8
Jerusalem und der Tempel sind zur Zeit der Abfassung des lukanischen Doppelwerks zwar zerstört,Footnote 9 dieser zerstörte Ort beeinflusst aber nach wie vor die narrative und theologische Konzeption dieser bedeutenden neutestamentlichen Schriften,Footnote 10 die zusammen etwa 26,5% des Neuen Testaments umfassen und in ihrer Gestalt als Evangelium und apostolische Tradition nach dem Diktum von C. K. Barrett so etwas wie ein erstes Neues Testament aus Evangelium und apostolischer Überlieferung darstellen.Footnote 11 Es stellen sich der Forschung daher weiterführende Fragen: Wie ist die Bedeutung Jerusalems für das lukanische Doppelwerk genauer zu bestimmen? Und: Haben diese Stadt und ihre Bewohner angesichts ihrer weitgehenden Bedeutungslosigkeit zur Zeit der Abfassung des lukanischen Schrifttums aus dessen Perspektive eine Zukunft und, wenn ja, welche?
I.2 Forschungsstand: Narrative Analyse und lukanische Terminologie des Heils
Die Zukunft Jerusalems kann nicht losgelöst vom Verständnis des Judentums im Doppelwerk näher bestimmt werden. Deswegen soll dieses im Folgenden mit Blick auf die Forschungsgeschichte einführend skizziert werden. War sich die ältere Forschung gewiss, dass die Trennung von Judentum und Christentum, wenn nicht mit dem Auftreten Jesu selbst, so doch mit der paulinischen Evangeliumsverkündigung bzw. dem Jerusalemer Konvent der Apostel vollzogen sei und das Doppelwerk im Zeithorizont der Parusieverzögerung der Verarbeitung dieser Trennung, der Begründung der Verwerfung Israels, der Hinwendung Gottes zu den nichtjüdischen Völkern und der Ablösung der Erwählung diene,Footnote 12 so sind diese vermeintlichen Gewissheiten in Bezug auf das lukanische Schrifttum in zwei Phasen der Forschung erheblich revidiert worden. In der ersten Phase wuchs das Unbehagen an der dezidiert kirchlich-christlichen und zugleich polemisch-antijüdischen Ausrichtung, die die ältere Forschungsmeinung dem Doppelwerk attestierte. Der antijüdische Charakter des lukanischen Schrifttums wurde nicht mehr positiv als Ausdruck des spezifisch Christlichen des Neuen Testaments,Footnote 13 sondern als Vorwurf gegen das lukanische Schrifttum selbst verstanden. Lloyd Gaston, Jack T. Sanders und andere machten in den 1980er Jahren unmissverständlich deutlich, dass das Bild vom Judentum im Doppelwerk als verzerrend, feindselig und schließlich auch als antijüdisch zu bewerten sei.Footnote 14 Zeitgleich verwiesen Robert L. Brawley, Josef Tyson und andere auf eine bleibend aufgeschlossene Haltung des Autors und seiner Schriften gegenüber dem Judentum.Footnote 15 Diese pointierten Interpretationen führten auch dazu, die Positionen der älteren Forschung neu zu durchdenken. Es wurde nicht mehr vorrangig der Text als Quelle interpretiert, sondern nach und nach trat die Analyse der Gestaltung und Auswahl durch den Autor,Footnote 16 dann zunehmend die Frage nach der Adressatenschaft in den Sichtkreis der Interpretationen.Footnote 17 Die Ansicht setzte sich durch, dass sich der Autor des Doppelwerks an nichtjüdische Christen wendet, um ihnen die Bedeutung der jüdischen Wurzeln des Christentums zu demonstrieren und ihnen zugleich die Zurückweisung des Evangeliums durch die ersten jüdischen Adressaten und die zeitgenössischen Synagogen zu erklären. Aus dieser Spannung zwischen Verwurzelung in der Mitte des Judentums und Zurückweisung der Evangeliumsbotschaft durch dieses erklärt sich der widersprüchliche Charakter dieses literarischen Werkes, das nach dem bekannten Diktum von Gaston eine der projüdischsten und zugleich antijüdischsten Schriften des Neuen Testaments ist.Footnote 18
In einer zweiten Phase wurde die Sicht des Judentums im lukanischen Doppelwerk weiter präzisiert. In der Frage nach der Erwählung Israels haben Christoph Schäfer, Jens Schröter u.a. unter dem Paradigma der von Gott gewirkten, aber zeitlich begrenzten „Verstockung“ Israels die etwa noch von Jürgen Roloff explizit zurückgewiesene Konvergenz mit der paulinischen Position in Röm 9–11 herausgearbeitet,Footnote 19 ohne die tiefgreifenden Unterschiede zu übergehen, die etwa im Konzept vom „Rest“ bei Paulus und der Umkehrerwartung bei Lukas bestehen.Footnote 20 Der ältere Konsens zum Doppelwerk, nach dem „den Juden die Erwählung genommen und der Gemeinde Jesu gegeben“ wurde, kann als widerlegt gelten.Footnote 21 Das Ende des Doppelwerks blickt auf ein empirisches Judentum als bleibendes und komplexes Gegenüber der Kirche, stellt dessen Erwählung nicht in Frage und rechnet mit seiner eschatologischen Zukunft.Footnote 22 Allerdings spricht wenig dafür, dass dieses Gegenüber ein Gegenstand aktueller Auseinandersetzungen, etwa um die Geltung der Speisetora, die Beschneidung, die Schriftauslegung oder den Besuch der Synagoge, ist. Die Aussagen, die sich bei Lukas dazu finden, sehen diese möglichen Konfliktgegenstände als geklärt und als Teil einer vergangenen Herkunftsgeschichte an.Footnote 23 Auf dieser Linie bewerten auch die Zugänge des collective bzw. social memory diese Konstellation von Erinnerung und Gegenwart. Simon Butticaz hält fest, dass das Vergangene nicht einfach vergangen, die zugeschlagenen Türen nicht für immer geschlossen sind, sondern als Teil der gegenwärtigen Identität wirksam bleiben.Footnote 24 In der Gesamterzählung des Lukas habe die zentrale Stellung Jerusalems die Funktion, die zentrifugalen Kräfte der weltweiten Evangeliumsverkündigung über die dort verbliebenen Apostel an Jerusalem und das Judentum rückzubinden.Footnote 25 Mehr noch: „Israël n‘est jamais écarté du salut, mais est promis à un rétablissement final (par ex. Lc 13,35 ou Ac 28,27fin).“Footnote 26
Man wird aber dem Bild vom Judentum im Doppelwerk nicht gerecht, wenn man es alleine unter dem eher passiven Deutungsparadigma der „Verstockung“ subsumiert. Die aktive Verantwortung jüdischer Menschen für den Tod Jesu wird beständig in teilweise scharfer Terminologie in Erinnerung gerufen (Apg 2,23, 3,15; 4,10; 7,52; 13,28 u. ö.)Footnote 27 und die Zerstörung Jerusalems wird als Folge der Zurückweisung Jesu dargestellt (Lk 19,41–4; 23,28–31).Footnote 28 Die antijüdische Polemik des Doppelwerks wird durch die Interpretation als Verstockung zwar theologisch rationalisiert, die damit verbundenen Ambivalenzen bleiben aber weitgehend unberücksichtigt.
Es ist deswegen zu begrüßen, dass sich in der gegenwärtigen Forschungsdiskussion ein neuer Konsens anbahnt, nach dem nicht vermeintliche programmatisch-theologische Einzelaussagen, sondern die gewählte Erzählperspektive und die damit verbundene Autor-Leser-Kommunikation für das Verständnis des Doppelwerks entscheidend sind.Footnote 29 Es eröffnen sich neue Möglichkeiten, Aussagen zur Charakterisierung jüdischer Menschen, zum Judentum, zur Erwählung Israels, zu Jerusalem und dem Tempel als Standpunkt innerhalb einer sich entwickelnden narrativen Konfiguration zu einer bestimmten Zeit mit bestimmten Sprecherfiguren, neu zu interpretieren. Im lukanischen Doppelwerk treten Erzählfiguren in Handlungen, Reden und Dialogen auf, die vom Autor bewusst gewählt und überlegt dargestellt werden, um Aussagen aus ihrer Perspektive und situativ eingefärbt, d.h. in einer kontrollierten Figurenkonstellation, zum Ausdruck zu bringen.Footnote 30 Darüber hinaus werden durch variierende Wiederholungen und Nach- bzw. Neuerzählungen, die zunächst als „Redundanzen“ erscheinen mögen, wichtige Szenen, wie etwa das Damaskuserlebnis, aus verschiedenen Blickwinkeln mehrfach beschrieben.Footnote 31 Das Ergebnis dieser Darstellungsweise ist aber nicht einfach ein „Gesamtbild“.Footnote 32 Vielmehr bringt das Doppelwerk durch wiederholtes Erzählen und Nacherzählen in Varianten eine bleibende Mehrperspektivität hervor, die der Ausdruck einer spezifischen narrativen Selbstreflexivität durch Spiegelung der Erzählinhalte ist.Footnote 33 Dem Autor gelingt es dadurch, die Kopräsenz von Gegensätzen, die sich begrifflich-logisch ausschließen würden, narrativ zu inszenieren und spannungsvoll aufeinander zu beziehen.Footnote 34 Die narratologische Interpretation des Doppelwerks kann in diesem Paradigma die von Lukas eröffneten Diskursräume benennen, tut sich aber schwer damit, definitive Positionen des Autors zu identifizieren. So ist es kein Zufall, dass bedeutende Kenner des Doppelwerks immer wieder auf Ambiguitäten, Ambivalenzen, Spannungen oder auf die Komplexität, Doppeldeutigkeit und Unbestimmtheit des Werks hinweisen.Footnote 35 Das literarische Konzept des lukanischen Doppelwerks ist deswegen in besonderer Weise dazu geeignet, an moderne Diskurse anzuschließen, da diese Diskurse Mehrperspektivität, Selbstreflexivität und den Umgang mit Ambiguitäten als Diskursbedingungen, die nach Jürgen Habermas „den Wechsel von der Beteiligten- zur Beobachterperspektive“ und damit ein rationales ethisches und politisches Urteil ermöglichen, voraussetzen.Footnote 36
Die Berücksichtigung der Mehrperspektivität der lukanischen Darstellung ist in Beziehung zu setzen zu der von mir in Anlehnung an François Bovon als „Terminologie des Heils“ bezeichneten Begrifflichkeit.Footnote 37 In erzähltheoretischer Perspektive gilt eine solche hervorgehobene Wortgruppe als „lexikalisch […] markierte(n) Sprache“, die zu den unvermeidbaren und objektiven impliziten indizial Zeichen, durch die sich der Erzähler darstellt, zählt.Footnote 38 Torsten Jantsch hat diese Terminologie nach Vorarbeiten von Gert Steyn und anderen näher definiert.Footnote 39 Als Ergebnis der genannten Forschungsbeiträge kann festgehalten werden, dass sich im lukanischen Doppelwerk um die Wortgruppe σωτήρ/σωτηρία/τὸ σωτήριον/σῴζɛιν ein Netz von Wörtern bildet, mit denen die Heilsteilhabe zum Ausdruck gebracht wird.Footnote 40 Die Wortgruppe (ἀπο-)λύτρωσις/λυτροῦσθαι/λυτρωτής gehört jedenfalls dazu.Footnote 41 Steyn verzichtet auf eine vertiefte Interpretation. Jantsch sieht die „Semantik des Heils“ auf die Aussagen zur Umkehr, Sündenvergebung und „ewiges Leben“ konzentriert.Footnote 42 Mein Vorschlag geht etwas weiter und nennt hier insgesamt zwölf Wortgruppen, die auch in der Redaktion des Septuagintapsalters und des Jesajabuches eine besondere Rolle spielen. Es spricht einiges dafür, dass der lukanische Wortschatz aus einem pluriformen Schreiber- und Übersetzermilieu des antiken Judentums stammt und deswegen in seiner Bedeutung nicht alleine christologisch bestimmt ist:Footnote 43 1. ἄϕɛσις, ἀφιέναι, Vergebung bzw. Vergeben von Sünden, Befreiung aus Gefangenschaft; 2. ɛἰρήνη, Friede, 3. ἔλɛος, ἐλɛɛῖν, Erbarmen, sich erbarmen; 4. ἐλπίς, ἐλπίζɛιν, Hoffnung, hoffen; 5. ἐπισκοπή, ἐπισκέπτɛσθαι, Heimsuchung bzw. heimsuchen (im Sinne von aufmerksamer Besuch); 6. ὁ κύριος, absolutes „Herr“ für Jesus in narrativen Passagen; 7. (ἀπο-)λύτρωσις, λυτροῦσθαι, Befreiung, befreien; 8. σπλάγχνα, σπλαγχνίζɛσθαι, Mitgefühl, mitfühlen; 9. σωτήρ, σωτηρία, τὸ σωτήριον, σῴζɛιν, Retter, Rettung, Rettendes, retten; 10. χαρά, χαίρɛιν, Freude, freuen; 11. χάρις, χαρίζɛσθαι, χαριτοῦν Gnade, Dank (im Sinn von Lohn), schenken; 12. παρρησία, παρρησιάζɛσθαι (nur Apg), öffentliche Redefreiheit, frei reden.Footnote 44
Um die Frage nach der Zukunft Jerusalems zu beantworten, sind demnach 1. die narrative Struktur des Doppelwerks, genauer die Autor-Leser-Kommunikation, und 2. Aussagen zur Zukunft Jerusalems und seiner Bewohner in Verbindung mit der „Terminologie des Heils“ als lexikalisch markierte Wortgruppe auszuwerten.
II. Die narrative Struktur des Doppelwerks und seine Aussagen zur Zukunft Jerusalems
Die Besonderheiten im Gebrauch des Stadtnamens Jerusalem im lukanischen Schrifttum verweisen auf eine semantische Tiefe, die auch die narrative Analyse beeinflusst und deswegen zunächst erläutert werden soll. Der Stadtname Jerusalem begegnet in der gräzisierten und damit deklinablen Fassung Ἱɛροσόλυμα, in der Regel als Neutrum Plural aufgefasst, und in der das Hebräische nachahmenden Fassung Ἰɛρουσαλήμ.Footnote 45 Die griechische Fassung ist auf τὸ ἱɛρόν Heiligtum zurückzuführen und wurde als sprechender Name verstanden, in etwa als „(Stadt) des Heiligtums des Solym“, meist auf Salomon oder auf die bei Homer genannten Solymer bezogen, was in der Antike als ein „edler Anfang“ (clara initia) galt.Footnote 46 Diese Interpretation, der auch Josephus folgt, ist zuerst bei Eupolemos,Footnote 47 dem ältesten jüdisch-hellenistischen Geschichtsschreiber um 160 v. Chr. belegt:
„Das Allerheiligste sei zuerst als ,Heiligtum des Solomon‘ (ἱɛρὸν Σολομῶνος) angesprochen worden, danach sei die Stadt nach dem Heiligtum mit falscher Aussprache ,Hierousalem‘ genannt worden, von den Griechen aber sei sie mit dem der Ableitung (d. i. vom Heiligtum des Solomon) entsprechenden Namen ,Hierosolyma‘ bezeichnet worden.“Footnote 48
Auf die erste Nennung der Stadt mit der Namensform Ἱɛροσόλυμα in Lk 2,22 folgt unmittelbar in 2,25 die alternative Fassung Ἰɛρουσαλήμ. Der Gebrauch der Namensformen richtet sich nach der situativen Verortung der Erzählinhalte in Bezug auf die dort vorgestellte Sprache Aramäisch oder Griechisch, d.h. in der Apostelgeschichte tritt Ἰɛρουσαλήμ etwas zurück (zuletzt Apg 25,3) und Ἱɛροσόλυμα begegnet deutlich häufiger als im Evangelium.Footnote 49 Die abgekürzten Namensformen Σαλήμ (Hebr 7,1f. angelehnt an Gen 14,18) oder τὰ Σόλυμα (Philostratus, Vit. Apoll. 5,27; Pausanias 8,16,5) verwendet Lukas hingegen nicht.
Philo und Josephus verwenden wie die Mehrheit der griechisch schreibenden jüdischen Autoren überwiegend Ἱɛροσόλυμα.Footnote 50 Die wenigen Ausnahmen ziehen wiederum die Aufmerksamkeit auf sich. Josephus verwendet Ἰɛρουσαλήμ nur ein einziges Mal in einem Zitat des Aristoteles, das Klearchos überliefert habe. Aristoteles habe gesagt, dass der Name der Stadt, nämlich Ἰɛρουσαλήμ, für Griechen „sehr schräg“ (πάνυ σκολιόν) klinge. Die antike Philologie interpretiert solche „schrägen“ Ausdrücke etymologisch oder allegorisch, um ihre Bedeutung zu erfassen.Footnote 51 Eine solche Interpretation bietet uns Philo.Footnote 52 Auch er verwendet Ἰɛρουσαλήμ nur ein einziges Mal und erläutert diese Namensform im Zusammenhang einer Exegese von Ps 46,5 zunächst etymologisch und dann allegorisch.Footnote 53 Die im Psalm genannte „Stadt Gottes“ (ἡ θɛοῦ πόλις) könne nicht „die heutige heilige Stadt, in der der heilige Tempel“ sei, meinen. Philo interpretiert dann den aus dem Hebräischen transkribierten Namen der Stadt Ἰɛρουσαλήμ etymologisch als „Vision des Friedens“ (ὅρασις ɛἰρήνης).Footnote 54
Der Wechsel der Namensformen ist mit Dennis D. Sylva am ehesten als wechselseitige Interpretation aufzufassen.Footnote 55 Es ist aber vor allem die „schräge“ hebraisierende Version Ἰɛρουσαλήμ, die eine Interpretation herausfordert. Lukas geht es darum zu zeigen, dass die hebräische enigmatische und die griechische sprechende Auffassung von dieser für das Judentum wichtigen Stadt aufeinander bezogen sind. Sie ist für beide Sprach- und Kulturräume vor allem die Stadt des Tempels.Footnote 56
Die Beschäftigung mit Philo und Josephus, aber auch mit dem Evangelium des Matthäus führt zu der weiteren nicht unwesentlichen Beobachtung, dass Lukas anders als die genannten Autoren den Stadtnamen nicht ehrend umschreibt: Jerusalem wird bei ihm nie „Stadt Gottes“, „Stadt des großen Königs“, „heilige Stadt“ oder „Metropole“ genannt.Footnote 57
Durch diese Akzentsetzung erklärt sich auch, dass das Lukasevangelium zu Beginn seiner Erzählung zunächst den Tempel erwähnt (Lk 1,9) und erst später geradezu beiläufig den Namen der Stadt bei der ersten Nennung in beiden Namensformen fallen lässt (2,22.25). In der Folge verdichten sich die Aussagen zu Jerusalem zu einem Gesamtbild. Die Stadt ist im Evangelium als bedeutsamer Ort, in dessen Mitte sich der Tempel befindet und die selbst als Zentrum Judäas fungiert, dargestellt (Apg 5,16; 10,39). In der Verklärungsszene wird anders als bei den Seitenreferenten Matthäus und Markus festgehalten, dass das Schicksal Jesu sich in Jerusalem vollenden werde (Lk 9,31). Die Wanderungsnotizen, beginnend mit der spannungsreichen Erzählung vom ungastlichen Dorf der Samaritaner (9,51 und V. 52–56), richten den Weg Jesu auf diese Stadt aus (13,22; 17,11; 18,31; 19,28). Durch die Sonderüberlieferung über das Prophetenschicksal, das nur in Jerusalem als Martyrium vollendet werden darf (13,33), bekommt dieser Weg nach Jerusalem eine tragische Akzentuierung, die durch die Leidensankündigungen (9,22.44; 18,32f.; vgl. 17,25) und das Wort vom Feuer und der Taufe, deren Kommen Jesus ersehnt (12,49f.), auf die Passion ausgerichtet wird. Der Blick auf diese Stadt, der Eintritt in sie und der Aufenthalt in ihr werden durch zahlreiche Aussagen, die sich so nur im dritten Evangelium finden, hervorgehoben: Die weinende Klage Jesu über Jerusalem (19,41–4), die Platzierung der zwar an Mk 13 angelehnten und doch wiederum um explizite Nennungen von Jerusalem (21,20.24) erweiterten apokalyptischen Rede Lk 21,5–36 im Tempel, das Wort an die Töchter Jerusalems (23,27–31), Auferstehung und Erscheinungen in Jerusalem statt in Galiläa, das Verbleiben der Jüngergemeinschaft in dieser Stadt sowie die Aufforderung Jesu an die Jünger, „bleibt in der Stadt“, der diese auch Folge leisten, indem sie „nach Jerusalem zurückkehren“ (24,49.52). Die ersten Kapitel der Apostelgeschichte stellen ebenfalls Jerusalem als Zentrum des Geschehens dar. Von dieser Stadt aus verbreitet sich das Evangelium, in sie kehrt auch Paulus mehrfach zurück.Footnote 58 Seine letzte Rückkehr nach Jerusalem ist von düsteren Prophezeiungen umschattet (Apg 20,23f.; 21,4.11.13) und in der Stadt trifft er auf einen geradezu unbändigen Tötungswillen, der in verschiedenen jüdischen Gruppen gegen ihn gehegt wird.Footnote 59 Erst mit der Verschiffung des gefangenen Paulus nach Rom, einem Ziel, das Gott für ihn bestimmt hat, ist eine Zäsur zu erkennen. Jerusalem tritt zwar in den Hintergrund, gerät aber nicht völlig aus dem Blick. Paulus verweist darauf, dass er unschuldig „als Gefangener aus Jerusalem heraus in die Hände der Römer“ ausgeliefert worden (28,17) und um der „Hoffnung Israels willen“ verhaftet sei (28,20). Die Ältesten der jüdischen Gemeinden Roms wundern sich, dass sie keine „Briefe aus Judäa“ (28,21) betreffs Paulus erhalten hätten, nennen die zentrale Stadt dieser Region selbst aber nicht. Die für das von Lukas berichtete Geschehen einstmals so zentrale Stadt scheint aus Perspektive von Apg 28 eine Stadt zu sein, zu der die Beziehung abzubrechen droht. Der Verzicht auf ehrende Umschreibungen wie „Stadt Gottes“ oder „heilige Stadt“ hat dieses Verständnis vorbereitet.
Ein weiterer Aspekt der narrativen Struktur führt dazu, dass die Bedeutung Jerusalems in der lukanischen Erzählung zurücktritt: die Ausrichtung auf Rom. Sie wird durch mehrere Motive vorbereitet, die im Grunde bereits mit der Nennung des Augustus in Lk 2,1 und der Charakterisierung des Zenturios von Kapernaum in Lk 7,3–5 als Freund der Synagoge einsetzt. Der Hauptmann steht am Anfang einer Reihe von Zenturionen als relevante Erzählfiguren, unter denen Cornelius als der exemplarische Nichtjude hervorragt.Footnote 60 In der Philippi-Episode werden jüdische und römische Lebensweise zunächst einander ausschließend gegenübergestellt (Apg 16,20b.21) und dennoch durch die erste Erwähnung des römischen Bürgerrechts des Juden Paulus paradox miteinander verbunden (Apg 16,37f.). In Korinth stellt Lukas die Haltung der römischen Elite gegenüber den entstehenden Gemeinden paradigmatisch an Gallio, der mit Quirinius, Pilatus, Sergius Paulus, Felix und Festus eine Reihe der römischen Statthalter bildet, dar. Die expliziten Romnotizen sprechen es dann klar aus: Paulus „muss“ (δɛῖ: 19,21; 23,11) im Auftrag des erhöhten Herrn von Jerusalem nach Rom gelangen und dort Zeugnis für ihn ablegen.
In der narrativen Konstruktion des Doppelwerks wird Jerusalem immer wieder hervorgehoben und betont thematisiert. Die zwei Fassungen des Stadtnamens verweisen auf die Ambivalenz zwischen der Stadt des Heiligtums (Ἱɛροσόλυμα) und einem Ort mit einer interpretationsbedürftigen Bedeutung (Ἰɛρουσαλήμ). Die Geschehnisse führen von der Stadt weg, die zu einem Ort der Vergangenheit zu werden droht.
III. Die Bewohner Jerusalems
Nach Aristoteles besteht eine Stadt nicht nur aus vielen, sondern vor allem aus unterschiedlichen Menschen.Footnote 61 Lukas hat die Bewohner Jerusalems, wie oben erwähnt, immerhin als Männer und Frauen Jerusalems im Evangelium geschlechtssymmetrisch benannt (Lk 13,4; 23,28). In der Regel fasst er aber die Stadtbewohner unter der Wendung „Bewohner Jerusalems“ (οἱ κατοικοῦντɛς ᾿Ιɛρουσαλήμ bzw. οἱ κατοικοῦντɛς ἐν / ɛἰς ᾿Ιɛρουσαλήμ) zusammen. Er gebraucht als einziger neutestamentlicher Autor diese Wendung, die in der prophetischen Verkündigung der Bücher Jeremia, Ezechiel und Sacharja eine so große Rolle spielt.Footnote 62 Die „Männer Jerusalems“ sind nach Lk 13,4f. nicht ohne Schuld und bedürfen alle der Umkehr. „Allen Bewohnern Jerusalems“ ist der schreckliche Tod des Judas, dessen Eingeweide sich auf dem vom Blutgeld gekauften Acker ergossen, bekannt (Apg 1,19). Zu Pfingsten wurden in Jerusalem wohnende Judäer, die aus der jüdischen Bevölkerung der ganzen Welt stammten, und die „Bewohner Jerusalems“ Zeugen der Pfingstereignisse (2,5.14).Footnote 63 Sie erleben auch die großen Taten der Apostel (4,16). Aber im direkten Anschluss wird in Apg 4,27 der Prozess und die Hinrichtung Jesu summarisch mit Blick auf Jerusalem zusammengefasst: „In dieser Stadt“ hätten sich Herodes, Pontius Pilatus, die nichtjüdischen Völker und die Völker Israels gegen Jesus versammelt. In der Synagoge des pisidischen Antiochien berichtet Paulus, dass die „Bewohner Jerusalems“ und ihre Führer in Jesus den Messias nicht erkannt und durch dessen Tötung die Sabbat für Sabbat verlesenen prophetischen Ankündigungen und damit „alles, was über ihn geschrieben steht“ (πάντα τὰ πɛρὶ αὐτοῦ γɛγραμμένα) erfüllt hätten (13,27). Die Bewohner Jerusalems werden der Sache nach weiterhin im Zusammenhang der Verhaftung und des Prozesses des Paulus erwähnt: Die „ganze Stadt“ (21,30: ἡ πόλις ὅλη) bzw. „ganz Jerusalem“ (21,31: ὅλη ᾿Ιɛρουσαλήμ) sei in Aufregung geraten und „die gesamte Bevölkerung der Juden in Jerusalem“ habe den Tod des Paulus gefordert (25,24: ἅπαν τὸ πλῆϑος τῶν ᾿Ιουδαίων [… ] ἔν τɛ ῾Ιɛροσολύμοις […]).Footnote 64 Nach Apg 13 treten zwar immer wieder Menschen in Jerusalem als Handlungsträger auf, sie werden aber in der Regel als Gruppen spezifiziert, etwa die Judäer aus Asien (21,27) oder das Synhedrion (22,30).
Die Aufnahme der signifikanten biblischen Wendung „Bewohner Jerusalems“ und ihre Verbindung mit der prophetischen Unheilsankündigung, die bei Jeremia und Ezechiel durchgehend Vernichtung und Zerstreuung über die Bewohner Jerusalems, bei Sacharja allerdings eine heilvolle Zukunft, wenn auch unter den Begleitumständen von Krieg und Gewalt mit sich bringt, stellt die Bewohner Jerusalems in die tragisch-dramatische Beziehung zu einem Gott, der Heil und Unheil wirken kann.Footnote 65 Dies wird noch deutlicher bei zwei Wendungen, in denen Jerusalem attributiv gebraucht ist: In Lk 2,36–38 wird berichtet, dass die Prophetin Hanna im Tempelgebiet zu denen spricht, die sich beständig dort aufhalten und die „Befreiung Jerusalems“ (λύτρωσις ᾿Ιɛρουσαλήμ) erwarten. Diese Frommen in Jerusalem sind Repräsentanten der in Lk 1f. besonders betonten politischen davidischen Messiashoffnung.Footnote 66 Jerusalem wird also auch als eine Stadt dargestellt, die ihrer Befreiung harrt. Nachdem die „Männer, die in Jerusalem wohnen“, in den tragischen Kontext von Schuld und Buße gestellt sind (13,4), wird den unfruchtbaren und den kinderlosen Frauen auf paradoxe Weise Wohlergehen zugesprochen (23,28f.). Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass die Generationenfolge der Bewohner Jerusalems abbrechen wird.Footnote 67 Die gleiche Vorstellung wird bereits in 19,44 thematisiert, wenn dort festgehalten wird, „und sie (die Feinde) werden dich und deine Kinder dem Erdboden gleich machen“. Die Bewohner Jerusalems sowie ihre Nachkommen haben innerhalb der lukanischen Erzählung keine Zukunft mehr, der Stadt selbst jedoch wird ihre „Befreiung“ in Aussicht gestellt.Footnote 68 In den hier behandelten Zusammenhängen wird ausschließlich die aus dem Hebräischen abgeleitete Namensform Ἰɛρουσαλήμ verwendet. Die Wahl der Namensform, die auch Philo und Josephus als semantisch bedeutsam und hintergründig gilt, und der Gebrauch der Wendung „Bewohner Jerusalems“ unterstreichen, dass die dramatischen Geschehnisse in und um Jerusalem durch das geschichtslenkende Handeln Gottes, der über das Wohlergehen seines Volkes entscheidet, bewirkt werden.Footnote 69 Innerhalb der lukanischen Erzählung ist damit aber auch ein vorläufiger Abschluss der Bedeutung des historischen Jerusalems erreicht, auf den das Doppelwerk bereits zurückblickt: Die Stadt wird zerstört werden und für die Bewohner gibt es keine Zukunft, außer derjenigen, die Gott selbst ihnen eröffnen wird.
IV. Der Menschensohn, die Terminologie des Heils und die Zukunft Jerusalems
Diese von Gott allein eröffnete Zukunft für Jerusalem lässt sich erfassen, indem die lukanischen Menschensohnaussagen und die Terminologie des Heils in ihrer Beziehung zur narrativen Konzeption des Doppelwerks analysiert werden. In der apokalyptischen Rede im Tempel (Lk 21,5–36) legt Lukas die Zeitvorstellung seines Doppelwerks offen und blickt über das Jahr 70 n. Chr. hinaus. Es genügt allerdings nicht, die geschilderten Phasen des zukünftigen Geschehens nach der materialen Darstellung des geschichtlichen Ablaufs zu bestimmen.Footnote 70 Für die Analyse des Textes ist es vielmehr weiterführend, von den von Lukas für die Autor-Leser-Kommunikation gewählten Zeitperspektiven auszugehen. Es lassen sich vier bestimmen: (A) Zeit der Erzählung, (B) Zwischenzeit, die gegenüber der Erzählung zukünftig, aus Perspektive des Erzählers aber Vergangenheit ist, (C) Zeit des Erzählers und damit der Autor-Leser-Kommunikation, die sich aus deren Gegenwart in die Zukunft erstreckt und in (D) die vierte Zeitperspektive, die heilsgeschichtlich relevante Zukunft übergeht:Footnote 71
(A) Zeit der Erzählung
(B) Zwischenzeit
(C) Zeit des Erzählers
(D) heilsgeschichtlich relevante Zukunft
Auf die apokalyptische Rede in Lk 21,5–36 bezogen bedeutet das, dass der Erzählkontext (20,45; 21,5) vom Zusammenkommen Jesu, der Jünger und einiger aus dem Volk im Tempel der Zeitperspektive (A) angehört. Der prophetische Bericht von der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. in 21,20–4 thematisiert die Zwischenzeit (B), die aus Sicht der ersten Zeitperspektive (A) Zukunft für die Autor-Leser-Kommunikation des Evangeliums jedoch bereits Vergangenheit ist. Auf sie folgt die „Zeit der nichtjüdischen Völker“ (21,24: καιροὶ ἐϑνῶν), eine im Neuen Testament singuläre Vorstellung, die eine nur vage Analogie zum Katechon in 2Thess 2,6f. darstellt und die Zeit des Erzählers näher kennzeichnet (C). Diese erstreckt sich in die gegenüber der Autor-Leser-Kommunikation „echte“ und heilsgeschichtlich relevante Zukunft (D), die durch kosmische Zeichen über die gesamte „bewohnte Welt“ (21,26: οἰκουμένη) und die Parusie des Menschensohns bestimmt ist.
In 21,28 wendet sich der Redner Jesus nun wieder an die im Jerusalemer Tempel versammelten Männer und Frauen des jüdischen Volkes sowie an seine Jüngerinnen und Jüngern.Footnote 72 Lukas wählt demnach wieder die Zeitperspektive (A). Der Bericht wechselt in die 2. Pers. Pl.: „blickt auf und erhebt eure Häupter“ (ἀνακύψατɛ καὶ ἐπάρατɛ τὰς κɛϕαλὰς ὑμῶν). Die Aussage wird von einigen als direkter Appell an die Lesenden verstanden und könnte dann der Zeitperspektive (C) zugeordnet werden.Footnote 73 Es gibt allerdings weder in Lukasevangelium noch in der Apostelgeschichte eine solche direkte (extradiegetische) Ansprache an die Leser in der 2. Pers. Pl., so dass die Wendung als eine (intradiegetische) Aufforderung an die Zuhörerschaft im Tempel aufzufassen ist. Lukas lokalisiert demnach das Auftreten des Menschensohns, der für ihn selbstverständlich Jesus ist (Apg 7,55f.), in Jerusalem. Die Parusie des Menschensohns findet in der Zeit nach der Zerstörung des Tempels und nach der „Zeit der nichtjüdischen Völker“ statt. Sie wird sich in Jerusalem ereignen.
Welche weiteren Hinweise auf den Ort der Parusie des Menschensohns geben die übrigen lukanischen Menschensohnaussagen? Nach Lk 12,8 wirkt der Menschensohn im himmlischen Thronrat am Gericht mit (vgl. 9,26; 22,69; Apg 7,56; 17,31), nach Lk 17,24 wird er über Galiläa und Samaria wie ein Blitz am Himmel zu sehen sein. Das Bildwort vom Aas und den Adlern kann im lukanischen Kontext auf das durch die römische Armee zerstörte Jerusalem bezogen werden (17,37).Footnote 74 In 18,8 wird gefragt, ob der Menschensohn, wenn er kommt, „Glauben auf Erden“ finden wird, ohne dass der Ort näher bestimmt wird. Während die Menschensohnworte der synoptischen Tradition ausschließlich von Jesus selbst ausgesprochen werden, äußert sich in Apg 7,55f. Stephanus über diesen. Die Nennung des Menschensohns in 7,56, seine direkte Identifikation mit Jesus in 7,55 und das ungewöhnliche zweimalige „Stehen zur Rechten“ hat umfassende Reflexionen ausgelöst.Footnote 75 Für die Lokalisierung des Kommens des Menschensohns ist zu berücksichtigen, dass Stephanus seine Vision in Jerusalem erlebt und das macht, was in Lk 21,28 gefordert wurde, nämlich von dort „in den Himmel“ zu schauen.Footnote 76
Michael Bachmann verweist zudem darauf, dass Stephanus die δόξα θɛοῦ und den „stehenden“ (ἑστῶτα) Menschensohn Jesus sieht (Apg 7,55f.), was es in Verbindung mit der Erwähnung des Urbilds (τύπος) des Zelts der Begegnung (7,44) wahrscheinlich mache, dass Lukas die Vorstellung eines himmlischen Tempels teile.Footnote 77 Die weitergehende Schlussfolgerung, dass dem Menschensohn Jesus ein „priesterliches Amt am himmlischen Heiligtum“ zugewiesen werde,Footnote 78 lässt sich aber nicht plausibel mit der bei Lukas dominanten Vorstellung vom himmlischen Thron Davids verbinden, so dass man sie nicht ziehen sollte. Die Aussage „zur Rechten“ bezeichnet die Teilhabe an der Macht Gottes und verweist auf die „hervorgehobene Autorität“ des königlichen Messias.Footnote 79 Der Menschensohn wird in Apg 7,56 das letzte Mal erwähnt. Da er für Lukas mit dem erhöhten Christus identisch ist, ist er keine Figur einer vergangenen Epoche. Dieser hat nun „auf ewig“ den Thron Davids inne, der nach der Vorstellung des Lukas „im Himmel“ ist. Er beauftragt gemeinsam mit dem Heiligen Geist die Apostel damit, die Evangeliumsverkündigung von Jerusalem nach Rom und von dort „bis ans Ende der Erde“ (Apg 1,8; vgl. Jes 49,6) zu tragen.Footnote 80 Nach dem Martyrium des Stephanus Apg 7 werden keine Aussagen mehr zum Gerichtshandeln des erhöhten Herrn mitgeteilt. Seine Funktion als Richter kann demnach nur von den Menschensohnaussagen her bestimmt werden: Er wird kommen, Glauben suchen, Jerusalem und Israel befreien, sowie diejenigen nichtjüdischen Menschen, die sich durch Umkehr und Buße dem Evangelium geöffnet haben, erlösen. Auch Apg 7,55f. legt demnach nahe, dass sich das Auftreten des Menschensohns und damit die Parusie in Jerusalem ereignen wird. Zieht man noch Apg 1,11 heran, erfährt man zudem, dass die Parusie „in derselben Weise“ wie die Himmelfahrt erfolgen wird.Footnote 81 Die Aussage in Apg 1,11f. spricht demnach für den Ölberg, Lk 21,28 legt den Tempel nahe und Apg 7,55f. lässt an den Versammlungsort des Hohen Rats in der Jerusalemer Oberstadt denken.Footnote 82
Um zu erfassen, was die Parusie in Jerusalem für die Stadt bedeutet, müssen nun die Aussagen zum Menschensohn zur Terminologie des Heils in Beziehung gesetzt werden. Der Menschensohn bringt bei seiner Parusie an einem Ort in Verbindung zu Jerusalem die „Befreiung“ (21,28: ἡ ἀπολύτρωσις). Von dieser war bereits in Lk 2,38 mit explizitem Βezug auf Jerusalem die Rede (λύτρωσις ᾿Ιɛρουσαλήμ). Lk 2,32 verweist auf die zukünftige „Herrlichkeit deines Volkes Israel“ (δόξα λαοῦ σου ᾿Ισραήλ).Footnote 83 Über Josef von Arimathäa wird berichtet, er erwarte die „Königsherrschaft (23,51: βασιλɛία τοῦ ϑɛοῦ), eine Haltung gegenüber der Zukunft, die parallel zur Erwartung des „Trostes Israels“ (2,25: παράκλησις τοῦ Ἰσραήλ) und der gerade genannten „Befreiung Jerusalems“ (2,38) mit προσδέχɛσθαι zum Ausdruck gebracht wird. In Apg 1,6 fragen die Apostel den Auferstandenen, ob er (noch) in dieser Zeit die „Königsherrschaft für Israel“ (βασιλɛία τῷ ᾿Ισραήλ) wiederherstellen wird.Footnote 84 In 3,21 wird die „Wiederherstellung“ (ἀποκατάστασις) der gesamten Heilsordnung der Schöpfung bestätigt und mit 28,20 ist die Erfüllung der „Hoffnung Israels“ (ἐλπὶς τοῦ ᾿Ισραήλ) in Aussicht gestellt.
Diese Aussagen zur Erwartung der auf Israel und Jerusalem bezogenen (ἀπο-)λύτρωσις, δόξα, βασιλɛία, παράκλησις, ἀποκατάστασις und ἐλπίς sind in Beziehung zu den Aussagen zur Errettung Jerusalems und zur Hoffnung Israels zu setzen, wie sie im Magnificat (Lk 1,46b–55), Benedictus (1,68–79) und Nunc dimittis (2,29–32) zum Ausdruck kommen. Im Magnificat wird „Israel“ als „Knecht“ (παῖς) bezeichnet, dem wie „Abraham und seiner Nachkommenschaft“ „Erbarmen“ (ἔλɛος) in Ewigkeit zugesagt ist (1,54f.). Im Benedictus wird die Zuwendung des „Gottes Israels“ zu „seinem Volk“ zur „Errettung“ (λύτρωσις) gepriesen (Lk 1,68). Durch das Stichwort λύτρωσις ist die Verbindung zu Jerusalem (2,38: λύτρωσις ᾿Ιɛρουσαλήμ) und zur Parusie (21,28: ἀπολύτρωσις ὑμῶν) explizit hergestellt. Auch das Nunc dimittis betont das „Heil“ (σωτηρία) und die „Herrlichkeit“ (δόξα) Israels. In diesen Zusammenhängen fehlt die Wortgruppe „Umkehr“ (μɛτάνοια). Die Zuwendung zu Israel ist in Lk 1f. mit Blick auf die Zukunft (Zeitperspektive D) bedingungslos zum Ausdruck gebracht. In der Apostelgeschichte hingegen (Zeitperspektive A) wird „Umkehr“ (μɛτάνοια) auch von den jüdischen Adressaten, z.B. in der Synagoge von Antiochia gefordert (Apg 13,24: βάπτισμα μɛτανοίας παντὶ τῷ λαῷ ᾿Ισραήλ; vgl. 19,4).
Lukas webt damit ein enges Netz der tragenden Begriffe der „Terminologie des Heils“ um die Zukunft Israels und Jerusalems: ἄφησις ἁμαρτιῶν, δόξα, ɛἰρήνη, ἔλɛος, ἐπισκέπτɛσθαι, λύτρωσις, μɛτάνοια, σπλάγχνα, σωτηρία/σωτήριον.Footnote 85 Die Zuwendung Gottes zu Israel ist in diesen Texten mit der christologischen Heilsankündigung verbunden, nicht aber durch eine christologische Bedingung gegenüber Israel eingeschränkt. Mit Lk 2,38 ist auch die Stadt Jerusalem (᾿Ιɛρουσαλήμ) explizit darin miteinbezogen. Die Aussage zur „Hoffnung Israels“ in Apg 28,20 nimmt diese bedingungslose Zuwendung Gottes zu Israel auf, die auch die Zukunft Jerusalems miteinschließt.Footnote 86
V. Fazit und Ausblick
Die Zukunft Jerusalems (Zeitperspektive D) ist in der Darstellung des Doppelwerks vor allem durch den Sachverhalt bestimmt, dass das Auftreten des Menschensohns und damit die Parusie Christi in räumlicher Verbindung mit der Stadt erfolgen wird (Lk 21,28; Apg 1,11f.; 7,55f.). Das Bild des historischen Jerusalems (Zeitperspektiven A–C) ist durch seine Zerstörung und seine nachfolgende Bedeutungslosigkeit bestimmt. Da die Zeitperspektiven A–C die Erzählung selbst vollständig abdecken, dominiert insgesamt eine polemische und tragische Perspektive die literarische Darstellung der Stadt im lukanischen Schrifttum. Weder die Menschen, die in Jerusalem leben, noch der Tempel oder die Stadt haben innerhalb dieses Zeithorizonts eine positive Zukunft. Das gilt nicht in gleicher Weise für das Judentum in der Diaspora, ohne dass uns Lukas hier Genaueres mitteilt.
In Lk 1f. wird die Terminologie des Heils uneingeschränkt auf „Israel“ bezogen. Israel, dem „Volk Gottes“ werden Trost, Vergebung der Sünden, Befreiung und Herrlichkeit zugesagt. Jerusalem ist in diese Zusage explizit miteinbezogen (2,38). Der Tempel jedoch nicht.Footnote 87 Lukas teilt mit dieser Zurückhaltung gegenüber einem neuen Tempel die Sichtweise, die im syrischen Baruch (2. Bar.), 4. Esra und in Sibylline 4 vertreten wird.Footnote 88 Auch die jüdische Apokalyptik stellt den Tempel nicht in das Zentrum ihrer Erwartungen an die Zukunft.Footnote 89 Genesis Rabbah und der Barnabasbrief lehnen sogar einen neuen Tempel unter den Bedingungen des Imperium Romanum ab.Footnote 90
Die Zeitperspektive (D) eröffnet die Möglichkeit dafür, dass die bedingungslosen Zusagen an Israel, Jerusalem und jüdische Menschen in Judäa aus Lk 1f. in der heilsgeschichtlich relevanten Zukunft verwirklicht werden können. Das Auftreten Jesu als Menschensohn in Jerusalem wird so geschildert, dass eine Wiederaufnahme der Zusagen an Israel möglich und als Konsequenz des in Lk 1f. Gesagten folgerichtig erscheint. Die Zukunft Jerusalems ist Teil dieser Heilsperspektive. Das lukanische Doppelwerk ist demnach antijüdisch gegenüber Jerusalem und der Mehrzahl der jüdischen Menschen seiner erzählten Welt, aber projüdisch mit Blick auf die Verwurzelung der christusgläubigen Gemeinden im Judentum und gegenüber den nicht eingelösten Zusagen an Israel und Jerusalem. Es vertritt insgesamt einen verengten Blick auf das Judentum und jüdische Menschen, der deren Eigenständigkeit und Würde nicht bedingungslos achtet. Dieser Mangel wird aber durch eine Erzählweise gemildert, die durch Mehrperspektivität und literarische Selbstreflexivität Komplexität, Ambivalenz und bleibende Gegensätze hervorbringt. Sie zwingt den Leser zum Wechsel von der Beteiligten- zur Beobachterperspektive und eröffnet ihm den Raum, in dem er zu einem eigenständigen theologischen und ethischen Urteil über die im Doppelwerk formulierten Aussagen zur Zukunft Jerusalems gelangen kann. Dadurch werden antike und heutige Leserinnen und Leser mit der Fähigkeit ausgestattet, die verengte Wahrnehmung des gegenwärtigen Judentums, wie sie im Evangelium und der Apostelgeschichte dominiert, zu überwinden. Diesen Schritt müssen sie allerdings ohne Hilfe des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte eigenständig vollziehen.
Acknowledgements
This article was presented as a main paper at the 2022 SNTS General Meeting in Leuven, Belgium in July 2022.
Conflict of Interest
The author declares none.