1. Einleitung: Schöpfung als Thema der Didache?
„Zuerst, liebe Gott, der dich geschaffen hat.“Footnote 1 Dieses Zitat stammt aus den ersten Zeilen der Didache (Did 1,2). Die erste Gottesprädikation (ὁ ποιήσας) verweist also auf seine schöpferische Kraft. Hängt dieser schöpfungstheologische Auftakt in der Luft, weil Schöpfung sonst kaum eine Rolle in der Didache spielt, oder wird dadurch von Anfang an deutlich, dass es sich dabei um ein zentrales Thema handelt?
Bisher gibt es m. W. weder Monografien noch Artikel explizit zur Schöpfung in der Didache. Auch Beiträge zur Schöpfungsthematik im frühen Christentum behandeln die Didache kaum.Footnote 2 Selbst in N. Joseph Torchias Monografie zur Schöpfung im frühen patristischen Gedankengut wird die Schöpfungstheologie der Didache nur an einer Stelle erwähnt: „The Didache exalts God's omnipotence as the ‘Lord Almighty’ (δέσποτα παντοκράτορ), whose power to create embraces all things.“Footnote 3 Dies ist mit Sicherheit eine Anspielung auf Did 10,3, weil nur dort diese Kombination der beiden Gottesprädikate vorkommt. Gösta Lindeskog nennt in seiner Untersuchung von „Schöpfer und Schöpfung in den apostolischen Vätern“ im Wesentlichen nur 1,2; 5,2; 10,3; 16,5.Footnote 4
Dass die Didache bisher höchstens am Rande in den Blick gekommen ist, wenn es um Schöpfung im entstehenden Christentum geht, ist verwunderlich, da die Didache eine der wichtigsten frühchristlichen Schriften außerhalb des Neuen Testaments ist. Bart Ehrman stellt in der Einleitung zu seiner Textedition fest: „The Didache was immediately seen to be one of [the] most important literary remains of early Christianity outside of the New Testament.“Footnote 5 Ein Grund für das Gewicht, das der Didache beigemessen wird, ist die verhältnismäßig frühe Datierung. Jonathan A. Draper geht etwa davon aus, dass der Kern von Did 1–6 in den Zeitraum vom 1. Jh. v.Chr. bis 50 n.Chr. zurückreicht.Footnote 6 Nimmt man weitere Datierungsvorschläge hinzu, so spannt sich für die Endredaktion ein Zeitraum von der Mitte des 1. Jh. bis in die Mitte des 5. Jh. auf.Footnote 7 Konsensfähig ist in der derzeitigen Forschung eine Datierung Ende des 1. Jh. bis Anfang des 2. Jh.Footnote 8
Nun könnte man vermuten, dass die Vernachlässigung der Didache bei der Schöpfungsthematik nicht daran liegt, dass die Schrift zu unwichtig sei. Ein anderer möglicher Grund wäre, dass die Didache zur Schöpfungsthematik nichts oder fast nichts beizutragen habe. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, ob sich diese Vermutung bestätigen lässt oder nicht.
Da die Erforschung der Schöpfungsthematik in der Didache ein Desiderat darstellt (Abschnitt 1), ist ein erster Schritt, die möglicherweise relevanten Stellen herauszufiltern. Daraus wird die Schöpfungsterminologie der Didache ermittelt und daraufhin befragt, welche schöpfungstheologischen Implikationen sich daraus für die creatio continua und die creatio nova ergeben (Abschnitt 2). In einem letzten Abschnitt wird nach der ökotheologischen Anschlussfähigkeit dieser frühchristlichen Schrift für den heutigen Diskurs gefragt (Abschnitt 3).
2. Schöpfungsterminologie und -theologie in der Didache
Wählt man die in der Einleitung erwähnten Publikationen von Torchia und Lindeskog als Ausgangspunkt, müssen wir mindestens vier Stellen in den Blick nehmen: Did 1,2; 5,2; 10,3; 16,5. Eine Durchsicht der Übersetzungen von Klaus Wengst, Georg Schöllgen, Andreas Lindemann und Henning Paulsen, Bart Ehrman sowie der Kommentare von Kurt Niederwimmer, Aaron Milavec, Thomas O'Loughlin und Shawn J. Wilhilte legt nahe, noch drei weitere Stellen in Betracht zu ziehen, nämlich 1,5; 4,11 und 13,3. Tabelle 1 bietet einen Überblick darüber, welche Stellen aufgrund welcher Deutungen von welchen Lexemen für die Schöpfungsthematik relevant sind.
Wie lässt sich nun die SchöpfungsterminologieFootnote 35 der Didache ordnen und aus deren Analyse eine Schöpfungstheologie gewinnen?
Zu dem terminologischen Feld der obigen Tabelle 1 gehören Subjekte der Schöpfungshandlung, Verben, die das schöpferische Handeln ausdrücken, und Objekte, die das Ergebnis des Schöpfungshandeln bezeichnen. Während die Subjekte und Verben unmittelbar mit der Schöpfung als Handlung verbunden sind, kann man im Fall der Objekte oft nur indirekt auf den ursprünglichen Schöpfungsakt zurückschließen. Daher soll die Terminologie in zwei Bereiche eingeteilt werden: Zum A-Bereich zählen Subjekte und Verben, zum B-Bereich die Objekte. Diese beiden Bereiche korrespondieren mit der Doppeldeutigkeit des Schöpfungsbegriffes, nämlich zum einen Schöpfung im Sinne des prozesshaften Vorgangs der Erschaffung (A) und zum anderen Schöpfung im Sinne des Endergebnisses, z.B. die Natur (B).
Im Folgenden möchte ich diese Stellen kontextualisieren und um weitere Stellen ergänzen, die über das, was aus dem bisherigen Forschungsstand hervorgeht, hinausgehen. Zunächst soll die erste und erhaltende Schöpfung (creatio prima und creatio continua) in den Blick kommen und anschließend die Neuschöpfung (creatio nova) untersucht werden.
2.1 Creatio prima und creatio continua
Berücksichtigt man die Kontexte, in denen die genannte Terminologie auftaucht, dann kann man festhalten, dass die erste Schöpfung am Anfang (creatio prima) wohl vorauszusetzen ist, aber kaum thematisiert wird.Footnote 36 Am deutlichsten klingt die creatio prima in 10,3 an.Footnote 37
Selbst in 10,3 wird der Blick aber sofort wieder auf das gelenkt, was die Didache vordergründig interessiert, nämlich die gegenwärtige Schöpfung (creatio continua). Gott als δɛσπότης παντοκράτωρ ist Lenker und Regent der Schöpfung. Did 10,3 ist die einzige Stelle, an der Niederwimmer explizit auf den „Schöpfer“Footnote 38 zu sprechen kommt. Er hält δɛσπότης παντοκράτωρ für Gottesbezeichnungen, die nicht nur ausdrücken, dass Gott alles am Anfang erschaffen hat, sondern auch in der Gegenwart alles regiert. Er ist der Erhalter, da er den Menschen Essen und Trinken gibt.Footnote 39 Das tut er, indem er immer wieder Pflanzen und TiereFootnote 40 hervorbringt. Auch Wilhite versteht δɛσπότης παντοκράτωρ als Benennung des Schöpfers,Footnote 41 der erhält und versorgt.Footnote 42 Theologisch besonders relevant ist seine Herausarbeitung der schöpfungstheologischen Konnotationen der Vater-Metapher im unmittelbaren Kontext von 10,3, nämlich in 10,2: „Within the Didache's liturgy, God, as the Father, serves as the creator in whom all things have their source.“Footnote 43
Niederwimmer bezieht sich auf Leonhard Goppelt,Footnote 44 der die in 10,3 genannten Dinge als „Schöpfungsgaben“ bezeichnet.Footnote 45 Niederwimmer selbst verwendet diese Bezeichnung bei seiner Interpretation der ἴδια χαρίσματα aus 1,5,Footnote 46 was sich mit der Deutung von Wengst (in seiner Ausgabe 4,8)Footnote 47 deckt:
Aus seiner Anmerkung zu 1,5 (= 4,8) geht hervor, dass er diese Stelle als „Infragestellung des Eigentumbegriffes“Footnote 49 deutet, da Besitztümer und Fähigkeiten als Gaben Gottes aufgefasst werden. Insofern deutet er die χαρίσματα als Gaben „des Schöpfers.“Footnote 50 „Als χαρίσμα vom Schöpfer ist das, was einer kann und hat, zugleich auch für die Mitgeschöpfe da.“Footnote 51 Eine ähnliche Logik liegt wohl Did 13,3–4 zugrunde.
Milavec deutet das, was den Bettelnden gegeben werden soll (nämlich die Erstlingserträge), als „first and best gifts of God's creation“Footnote 52.
Gott als Vater möchte also, dass alle seine Kinder an den Schöpfungsgaben teilhaben (1,5; 13,3–4). Daher sollen die Gaben, die man empfangen hat, mit den Mitmenschen geteilt werden. An diesen Stellen wirkt es so, als ob alle Menschen als Geschöpfe Kinder Gottes sind. Ganz anders klingt 4,11, wo nur eine Person, die andere versklavt, nicht aber eine versklavte Person, als τύπος θɛοῦ bezeichnet wird, was etwa von Wengst als Abbild Gottes übersetzt wird (4,11).
Hier wird die Sozialhierarchie von Versklavten und Herren schöpfungstheologisch begründet: Wie die Menschen als Geschöpfe Gott mit Respekt und Ehrfurcht begegnen sollen, so sollen die Versklavten ihre Herren respektieren und fürchten. Wenn die Herren Abbilder Gottes sind, dann wirft dies die Frage auf, ob nach Ansicht der verfassenden PersonFootnote 54 von 4,11 Versklavte keine Abbilder Gottes seien. Eine solche Meinung ist nicht nur aus heutiger Sicht höchst problematisch, sondern wurde schon in der Antike infrage gestellt.Footnote 55
Die Didache erwähnt nicht die Erschaffung Adams und Evas (creatio prima), aber geht davon aus, dass die Menschen ihr Dasein Gott verdanken, der sie geschaffen hat (1,2 und 5,2). In diesem Verständnis ist jedes Zur-Welt-Kommen ein Schöpfungsakt und alle Menschen sind Geschöpfe Gottes (πλάσμα, 5,2). Das in der 2. Person Singular adressierte Subjekt in Did 1,2 verdankt sein Leben also dem Schöpfer.
Auch Wengst, übersetzt ποιέω in 1,2 mit dem Verb „schaffen“ und umschreibt den Gesamtsatz mit der Formulierung „Liebe zum Schöpfer“Footnote 56. Ebenso verweist Wilhite in seinem Kommentar auf den schöpfungstheologischen Aspekt des Liebesgebotes in 1,2.Footnote 57 Er sieht einen parallelen Gedankengang in 5,1 und 1,2, da jeweils ein Zusammenhang zwischen moralischem Fehlverhalten und mangelnder Liebe zum Schöpfer hergestellt wird.Footnote 58
Es kann festgehalten werden, dass ποιέω zwar sehr häufig vorkommt und nicht an jeder Stelle schöpfungstheologisch konnotiert ist. Aber in bestimmten Kontexten kann es die Bedeutung „schaffen“ annehmen.Footnote 59 Der Übersetzung von Wengst zufolge ist dies nicht nur für Did 1,2 der Fall, sondern auch für 5,2, wo es im Rahmen eines Lasterkataloges heißt:
Ähnlich wie ποιέω ist auch πλάσμα nicht immer schöpfungstheologisch konnotiert, aber hier scheint die Übersetzung mit „Geschöpf“Footnote 61 gerechtfertigt, da unmittelbar zuvor von Gott als dem, der die Menschen geschaffen hat (ὁ ποιήσας), die Rede ist. Anders als Wengst und Henning/PaulsenFootnote 62 löst Schöllgen das Partizip ὁ ποιήσας nicht als Relativsatz auf, sondern wählt das deutsche Wort „Schöpfer“Footnote 63 (5,2).Footnote 64 Wilhite sieht in 5,2 eine Wiederaufnahme von Schöpfungsmotiven (πλάσμα als „creation“Footnote 65, Kinder als „creative works of God“Footnote 66, vgl. O'Loughlin: „God's image“Footnote 67).
An den Übersetzungen von Wengst, NiederwimmerFootnote 68 und Henning/PaulsenFootnote 69 fällt auf, dass für ποιέω in 1,2 und 5,2 dasselbe deutsche Verb wie für die Übersetzung von κτίζω in 10,3 verwendet wird, nämlich „schaffen“. O'Loughlin verwendet jeweils „create“.Footnote 70 In Schöllgens Textausgabe fällt auf, dass er anders als die zuvor genannten Ausleger zwischen der Übersetzung „schaffen“ für κτίζω (10,3) und „erschaffen“ für ποιέω differenziert (1,2).Footnote 71 Auch Ehrman unterscheidet zwischen „make“ (1,2; 5,2)Footnote 72 und „create“ (10,3)Footnote 73. Allerdings dürfte mit diesen verschiedenen Übersetzungen wahrscheinlich kein großer inhaltlicher Unterschied einhergehen.
Die ethische Konsequenz der Vorstellung, dass der Schöpfungsakt schon im Mutterleib beginnt, ist für die Didache, dass weder geborene noch ungeborene Kinder getötet werden dürfen (vgl. 5,2 mit 2,2).
Das Töten von Kindern ist nach Ansicht dieses Verses in gewisser Weise auch eine Beraubung des eigentlichen Vaters. Die Vater-Metapher, die mit ihren sieben VorkommnissenFootnote 75 in der Didache eine Schlüssel-Metapher für Gott ist, kann in doppelter Hinsicht schöpfungstheologisch interpretiert werden: Zum einen ist er der, der die Menschen zeugt, zum anderen ist er der, der sie mit seinen Schöpfungsgaben (1,5; 10,3; vgl. 8,2) immer wieder versorgt. Diese schöpfungstheologischen Dimensionen der Vater-MetapherFootnote 76 sind nicht nur auf 10,2 zu reduzieren, sondern können an keiner Stelle, an der Vater in der Didache vorkommt, ausgeschlossen werden.Footnote 77
Auch in der Auslegung der synoptischen Varianten des Vaterunsers wird auf den Zusammenhang von Vaterschaft und der Schöpfungsthematik verwiesen. „Die Vater-Anrede … rekurriert insbesondere auf die Eigenschaften Gottes als König und Schöpfer, der für sein erwähltes Volk sorgt.“Footnote 79 Unterstrichen wird dies u.a. durch das Kaddisch, dem das Vaterunser nahesteht; dort wird die Erschaffung der Welt durch den Willen Gottes explizit benannt.Footnote 80 In Did 8,2 können sowohl das immer wieder neue Erschaffen von Menschen im Mutterleib als auch die Bereitstellung von Nahrung (das tägliche Brot) dem kontinuierlichen Schöpfungshandeln zugerechnet werden.
Darüber hinaus impliziert 8,2 die Geschichtsmacht Gottes: Die Bitte darum, dass sein Wille geschehe, setzt theologisch voraus, dass Gott seinen Willen ausüben kann, und zwar sowohl im Himmel als auch auf der Erde. Die Rede von Himmel und Erde kann dabei als Merismus verstanden werden, durch die die Gesamtheit der Schöpfung ausgedrückt wird.Footnote 81 Die schon in 10,3 anklingende Regentschaft gilt auch laut 3,10 nicht nur für den Bereich der Natur, sondern für alle, auch geschichtlichen, Ereignisse.
Nachdem nun verschiedene Aspekte der creatio continua beleuchtet wurden, soll nun zur Neuschöpfung übergegangen werden.
2.2 Creatio nova
Die Neuschöpfung (creatio nova/eschatologica) wird ähnlich wie die erste Schöpfung (creatio prima) in der Didache kaum explizit thematisiert. Sie mag in der Rede von den (zukünftigen) Zeitaltern durchschimmern, die immer wieder in Gebeten formelhaft auftaucht (ɛἰς τοὺς αἰῶνας, 8,2; 9,2–4; 10,2.4–5). Die Zukunft der menschlichen Schöpfung (κτίσις τῶν ἀνθρώπων) wird in 16,5 angedeutet: Die Menschen werden einer Feuerprobe unterzogen, wobei viele nicht bestehen werden, sondern nur die Gläubigen. Ehrman merkt in seiner Fußnote zu κτίσις τῶν ἀνθρώπων in 16,5 an, dass die Bedeutung dieser Stelle für ihn unklar („obscure“) ist.Footnote 82
Er verweist außerdem wie bereits Paulsen/LindemannFootnote 83 auf die textkritische Problematik, dass der Codex Hierosolymitanus hier κρίσις anstatt κτίσις überliefert.Footnote 84
Die Übersetzung „creation“ verknüpft diese Stelle expliziter mit der Schöpfungsthematik als etwa die Übersetzungsalternative „Menschenwelt“ (Wengst).Footnote 85 Schon Niederwimmer hatte hier κτίσις τῶν ἀνθρώπων als „Geschöpf der Menschen“ aufgefasst, was für ihn das Menschengeschlecht meint.Footnote 86 Schöllgen dreht es um: Im Übersetzungstext schreibt er „Menschengeschlecht“ und in der Erläuterung erklärt er, dass es „eigentlich ‚Schöpfung der Menschen‘“ heißt, was die „menschlichen Geschöpfe“ meint.Footnote 87 Ebenso versteht Wilhite κτίσις τῶν ἀνθρώπων als „created humanity“Footnote 88 bzw. „all creation of humanity“Footnote 89.
Die Zukunft für einen Teil der Menschheit wird außerdem in 3,7 angeschnitten.
Aus 3,7 lässt sich schließen, dass es auch in der eschatologischen Schöpfung eine ErdeFootnote 90 geben wird; unklar bleibt in 3,7, ob die alte Erde vergeht, um einer neuen zu weichen, oder ob für die Didache die eschatologische Erde mit der (womöglich erneuerten) Erde der gegenwärtigen Schöpfung zu identifizieren ist.Footnote 91 Bezieht man die Aussagen über die Vergänglichkeit des Kosmos in 10,6 mit ein, scheint es auf den ersten Blick nahezuliegen, dass die Didache von einer „de-creation“ ausgeht, also der Zerstörung der ersten Schöpfung. Ob die „de-creation“ im Sinne etwa von 4Esr 7,30–50 impliziert, dass die jetzigen Schöpfungsordnungen aufgelöst werden und eine zweite Welt an die Stelle der ersten tritt, ist Auslegungssache. Denn „de-creation“ könnte auch von einer „reconstitution“ gefolgt werden und muss nicht zwangsläufig in einer „annihilation and replacement by something utterly new and different“ enden.Footnote 92 Jedenfalls liegt eine Spannung in der Kosmologie der Didache: Einerseits stellt sie den vergänglichen Kosmos als eine verführte und in falsche Hände gefallene Größe dar (10,6; 16,4),Footnote 93 andererseits hat sie eine Wertschätzung der Erde, die den Sanftmütigen als Erbe versprochen wird. Über die gegenwärtige Erde kann jedenfalls gesagt werden, dass sie in der Vorstellung von Did 9,4 begrenzt ist.
Die Rede von den Enden der Erde (ἀπὸ τῶν πɛράτων τῆς γῆς) meint hier höchstwahrscheinlich die äußersten Grenzen des Teils der Schöpfung, die den Menschen zugänglich ist bzw. von Menschen bewohnbar ist. Die gegenwärtige Schöpfung ist nach Auffassung der Didache aber nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich begrenzt. Dies geht indirekt daraus hervor, dass die gegenwärtige Weltzeit als Weltzeitalter verstanden wird, das einen Anfangspunkt hatte. Die Formulierung „noch nie“ wird durch das Syntagma seit (dem Beginn) des Weltzeitalters (ἐξ αἰῶνος, 16,4) bekräftigt.
Nach frühjüdischen und -christlichen Ansichten gibt es das jetzige und das kommende Weltzeitalter.Footnote 94 Um sich auf den Beginn dieses Weltzeitalters zu beziehen, wird teilweise das Syntagma ἐξ αἰῶνος bzw. ἐκ τοῦ αἰῶνος eingesetzt (vgl. z.B. Joh 9,32).Footnote 95 Kurz vor der Wiederkehr Christi wird diese Erde nach Vorstellung der Didache in die Macht des sich als Sohn Gottes ausgebenden Weltverführers gegeben.Footnote 96 Diese verführte und in falsche Hände geratene Schöpfung wird allerdings vergehen (10,4). Am Ende steht die Aussage, dass der Kosmos den kommenden Kyrios sehen (ὁράω) wird (16,8). Hier war vermutlich bezüglich des Wortes κόσμος hauptsächlich die Menschenwelt im Blick.Footnote 97 Aus Perspektive der Human-Animal Studies könnte man jedoch fragen, ob auch andere Tiere eine Wahrnehmung des Kyrios haben könnten. Man denke exemplarisch nur an Bileams Eselin, die in Bezug auf das Übernatürliche verglichen mit ihrem Reiter eine bessere Wahrnehmungsgabe hat (für ihr Sehen des Engels wird ebenso ὁράω verwendet). Ist die Reduktion des Kosmos auf die Menschenwelt eine anthropozentrische Engführung, an die wir uns zu sehr gewöhnt haben?
2.3 Zwischenergebnis
Zusätzlich zu den oben zusammengestellten Stellen, die sich aus der bisherigen Forschung (hauptsächlich aus Übersetzungen und Kommentaren) ergeben haben, möchte ich in Anschluss an meine detailliertere Analyse also noch folgende ergänzen, die mir für die Schöpfungstheologie relevant erscheinen (Tabelle 3).
Nicht alle dieser Lexeme und Syntagmata sind in derselben Art und Weise schöpfungstheologisch relevant. Nur weil ein Wort an einer Stelle schöpfungstheologisch konnotiert ist, muss es nicht zwangsläufig an allen anderen Stellen dieselbe Konnotation haben. Dennoch ist es nicht auszuschließen, dass schöpfungstheologische Implikationen bestimmter Wörter mitschwingen, wenn sie an manchen Stellen der Schrift mit der Schöpfungsthematik verknüpft sind. Es gibt vor allem zwei Indikatoren für die schöpfungstheologische Relevanz einer Stelle: Dichte von Schöpfungsterminologie und intertextuelle Plausibilität. Je höher die Dichte an Schöpfungsterminologie in einem Kontext, desto relevanter ist die Stelle für die Schöpfungstheologie. Und je mehr intertextuelle Bezüge dieselben oder ähnliche Formulierungen in Schöpfungskontexten verwenden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um typische schöpfungstheologische Ausdrücke handelt. Was heißt das für die konkreten Fälle?
1. Die Vatermetapher ist in 10,2 am stärksten schöpfungstheologisch aufgeladen, da im unmittelbar folgenden Vers die väterlichen Handlungen des Erschaffens von allem (creatio prima) und Versorgens der Menschen (creatio continua) genannt werden. Auch in 1,5 steht das fürsorgliche Geben (creatio continua) in direktem Zusammenhang mit dem Vater-Titel. Im Vaterunser (8,2) wird nicht nur die tägliche Versorgung mit Bort erwartet (creatio continua), sondern auch, dass es dem Vater möglich ist, seinen Willen im Himmel und auf Erden durchzusetzen, also in der ganzen Schöpfung. Der Verbindung von Himmel und Erde kommt darüber hinaus in möglichen intertextuellen Bezugsstellen vor, in denen es auch um die Schöpfung geht.Footnote 98 Bei der Nennung des Vaters in der Taufformel (Did 7,1.3) sowie in den eucharistischen Gebeten (9,2.3) kann man nicht ausschließen, dass schöpfungstheologische Konnotationen in der Vater-Metapher mitschwingen. Dennoch ist klar, dass 7,1.3; 9,2.3 nicht zu den gewichtigen Kernstellen der Didache zählen, wenn es um die Schöpfungsthematik geht.
2. Die Erde ist als zweiter Teil des Merismus „Himmel und Erde“ essenzieller Bestandteil dieses Syntagmas, das die Gesamtheit der Schöpfung ausdrückt (8,2). Für die Theologie der Neuschöpfung (creatio nova/eschatologica) ist die Aussage über das Erben der Erde wesentlich (3,7). Dass die Erde durch die äußersten Enden räumlich begrenzt (9,4) und in der Hand des Weltverführers ist (16,4), sind Zusatzinformationen zum gegenwärtigen Zustand der Schöpfung, die nicht auf derselben Ebene liegen.
3. Die Aussagen über die zukünftigen Weltzeitalter (8,2; 9,2–4; 10,2.4–5) haben kaum etwas mit Schöpfung zu tun, wenn man das Verständnis von Schöpfungstheologie auf die creatio prima reduziert. Auf diese wird höchstens in 16,4 angespielt, wenn man darin einen Verweis auf den Beginn der Schöpfung sieht. Für die Theologie der creatio nova ist es jedoch wesentlich, dass es nicht nur das jetzige Weltzeitalter gibt, das auch als „dieser Kosmos“ (10,6) bezeichnet wird, sondern dass noch weitere Weltzeitalter folgen. Ob der Kosmos in 16,8 nicht nur die Menschen, sondern auch den Rest der Schöpfung meint, ist schwer eindeutig zu beantworten. Das hängt im Wesentlichen davon ab, welches Kosmos-Verständnis man der verfassenden Person unterstellt, also von welchen kosmologischen Konzepten sie geprägt ist.
3. Schöpfungsethischer Ausblick
Es gibt verschiedene schöpfungsethische Themen, die man vertiefen könnte, z.B. die schöpfungstheologischen Begründungen des Abtreibungsverbotes (Did 2,2; 5,2) sowie der Sozialhierarchie (4,11). Ich möchte mich in diesem Ausblick allerdings auf ein Thema beschränken, und zwar die ethischen Implikationen der Kosmologie.
Wie gehen wir hermeneutisch mit den problematischen Teilen des christlichen Erbes um, die den gegenwärtigen Kosmos als eine vorübergehende Größe auffassen, für dessen Erhalt sich die Christusgläubigen nicht einsetzen müssen, weil ohnehin alles vergeht und durch eine neue Schöpfung ersetzt wird?Footnote 99 Eine solche Frage kann im Zusammenhang mit Did 10,6 aufkommen, falls man den Vers so versteht, dass hier um das Vergehen des Kosmos gebetet wird. Damit stehen wir vor einem ähnlichen Problem wie etwa bei den ntl. Stellen 2Petr 3,5–13 und Apk 21,1–22,5.Footnote 100 David G. Horrell skizziert in seiner Einleitung zu dem Sammelband „Ecological Hermeneutics“Footnote 101 zwei Extrempole im Umgang mit solchen Stellen: Einerseits wird versucht, die christlichen Texte so „grün“ wie möglich zu machen. Dabei werden die Texte gegen Angriffe verteidigt, indem darauf verwiesen wird, dass es sich bei Interpretationen, die sich negativ auf den Umgang mit der Schöpfung auswirken, um Fehlinterpretationen handelt – denn eigentlich seien die Texte schon immer „grün“ gewesen, man müsse sie nur richtig verstehen (z.B. Green Bible).Footnote 102 Andererseits werden heutige Maßstäbe der Öko-Gerechtigkeit an die Texte angelegt. Dabei wird kritisch geprüft, ob die biblischen Texte und deren Wirkungsgeschichte mit gegenwärtigen ökologischen Zielen vereinbar sind. Es wird versucht, die oft unterdrückte Stimme der Erde wieder zum Sprechen zu bringen (z.B. Earth Bible).Footnote 103
Horrell versucht, einen Mittelweg zu gehen, auf dem einerseits die Ambivalenzen der Texte wahrgenommen werden, man aber andererseits nicht bei der Kritik der Texte stehenbleibt, sondern auch nach dem ökologischen Potenzial fragt, das in ihnen steckt. Dieser hermeneutische Weg scheint sich auch für die Didache zu eigenen, wie nun gezeigt wird.
Zuerst ist festzuhalten, dass die Didache kein vordergründiges Interesse an ökologischen Problemstellungen hat. Dies liegt vermutlich nicht zuletzt daran, dass sich die ökologischen Gegebenheiten inzwischen drastisch geändert haben. Aufgrund unserer Situation tragen wir andere Fragen an den Text heran als Lesende aus den ersten Jahrhunderten. Eine dieser Fragen ist, ob das Bitten um das Vergehen des Kosmos in 10,6 die ganze Schöpfung oder nur die Menschenwelt meint.
Für beide Interpretationen gibt es Argumente. Für die Menschenwelt spricht, dass in 16,5 von einer Feuerprobe der Menschheit die Rede ist, in der die meisten vergehen (ἀπόλλυμι). Um sich der Frage nach der Bedeutung von κόσμος anzunähern, sollen kurz zeitgenössische Schriften herangezogen werden. Ein exemplarischer BlickFootnote 104 in das Johannesevangelium liegt nahe, da dies die ntl. Schrift ist, in der κόσμος am häufigsten vorkommt.Footnote 105 Die 78 Belege machen mehr als 41 % der gesamten ntl. κόσμος-Belege aus.Footnote 106 In der Joh-Exegese gibt es einen Konsens,Footnote 107 dass man für den Großteil der κόσμος-Stellen davon ausgehen kann, dass die (ungläubige) Menschenwelt gemeint ist.Footnote 108 Wenn man von der Menschenwelt-Bedeutung auch an dieser Stelle ausginge, würde man das schöpfungstheologische Problem minimieren, da hier „nur“ das Vergehen des bösen Teils der Menschenwelt im Blick wäre. Wenn allerdings nicht ausgeschlossen wird, dass es sich hier um die gesamte Schöpfung handelt, verschärft sich das ökotheologische Problem: Gibt es einen Planeten B? Und falls ja, ist der gegenwärtige Planet A hinfällig?
Für die Deutung von κόσμος als Schöpfung in Did 10,6 spricht, dass die Vorstellung der Vergänglichkeit von Himmel und Erde (ὁ οὐρανὸς καὶ ἡ γῆ παρɛλɛύσονται)Footnote 109 ntl. breit bezeugt und es daher möglich ist, dass auch die Didache von der Vergänglichkeit der Schöpfung ausgeht. Falls dieser Planet vergehen und es einen neuen geben würde, scheinen ökologische Bemühungen vergeblich. Der Wunsch in Did 10,6, dass dieser Kosmos vergehen soll, würde eine Geringschätzung der verfassenden Person gegenüber der gegenwärtigen Schöpfung durchschimmern lassen. Diese Interpretation ist aber nicht zwangsläufig, sondern das Vergehen des Kosmos kann auch so aufgefasst werden, dass die Schöpfung so, wie sie in der Gegenwart ist, vergehen und zu einer verwandelten Neuschöpfung umgestaltet wird.
Die Hoffnung auf eine andere, neue Welt wird in einer säkularen Variante im Film „Don't Look Up“ (2021) durchgespielt. Die Präsidentin der USA und Isherwell, CEO eines großen Technikunternehmens, müssen sich nicht um die katastrophalen Folgen des bevorstehenden Kometeneinschlags auf die Erde kümmern, denn im schlimmsten Fall haben sie als Ausweichmöglichkeit einen anderen Planeten, den sie mit ihrem privaten Raumschiff erreichen können. Bis zum letzten Moment versuchen sie, aus dem Kometen Profit zu schlagen, indem sie durch geplante Aufspaltungen wertvolle Rohstoffe extrahieren wollen. Das höchstwahrscheinliche Kollabieren des gesamten Ökosystems im Falle des Scheiterns ihrer Mission ist ihnen gleichgültig, da sie die Möglichkeit haben, auf eine Art neue Erde umzusiedeln. Dystopisch wie der Film ist, scheitert dieses Vorhaben, da die Menschen mit den neuen Gegebenheiten nicht zurechtkommen, vor allem mit der Luftzusammensetzung und den wilden Tieren. Der Planet B ist also keine wirkliche Option. Insofern ist der Slogan „Es gibt keinen Planeten B“ ein ernüchternder Weckruf, den man als Kritik an solchen Ausweich-Hoffnungen, seien sie religiös oder wissenschaftlich begründet,Footnote 110 verstehen kann. Solche Hoffnungen können dazu verleiten, der Klimakrise nicht aktiv entgegenzuwirken. Demgegenüber steht das Nach-Oben-Schauen im Film dafür, den Kometen, den man als Symbol für die Klimakatastrophe auffassen kann, als reale Bedrohung wahrzunehmen.
4. Fazit
Nun zurück zur Didache: Kann man der Schrift unterstellen, dass sie eine Abwertung der gegenwärtigen Schöpfung propagiert (Did 10,6) und durch die Hoffnung auf das Erben einer neuen Erde (3,7) Bemühungen um den Erhalt dieser Welt für sinnlos erklären würde? Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort: Zwar könnte man die Didache durchaus so lesen, allerdings würde eine solche Lesart fatale Konsequenzen für den Umgang mit der Schöpfung zeitigen und steht außerdem in Spannung zu Stellen, die man als Wertschätzung der Schöpfung interpretieren kann. Allein die Tatsache, dass die Erschaffung von allem auf Gott zurückgeführt wird (10,3),Footnote 111 lässt die Vermutung zu, dass hier die Vorstellung von der Güte der Schöpfung im Hintergrund stehen kann.Footnote 112 Darüber hinaus fallen im Gebet in 10,6 die Stichwörter „Hosianna“ und „Maranatha“, die auf ein Kommen Christi verweisen, das man nicht als Zerstörung, sondern als Transformation der Erde interpretieren könnte. Es wird explizit ein Zusammenhang zwischen dem Schöpfungsglauben und einer dankbaren Haltung hergestellt (10,3–4).Footnote 113 Die Natur wird als positiv konnotierter bildspendender Bereich gewählt, wenn etwa vom Weinstock Davids (ἄμπɛλος Δαυίδ, 9,2) oder den Bergen (9,4) die Rede ist. Darüber hinaus wird aus der Wahrnehmung der Lebensmittel und Besitztümer als Schöpfungsgaben (1,5; 8,2; 10,3) in der Didache selbst schon der Schluss gezogen, dass man die gegebenen Ressourcen miteinander teilen sollte. Ausbeuten und Raffen – Laster mit fatalen sozialen und ökologisch Auswirkungen – werden hingegen in den Geboten und Lasterkatalogen verurteilt: Man soll nicht verkrampft am eigenen Besitz festhalten, sondern bereitwillig teilen (1,4–6; 11,12), nicht stehlen noch den Nächsten beneiden (2,2–3). Man soll nicht zum Habgierigen noch zum Dieb werden (2,6; 3,5; 5,1). Geldgier ist ein Ausschlusskriterium für kirchliche Ämter (15,1). Geben ist besser als Nehmen (4,5–8). Angesichts dessen, dass es sich bei Besitztümern um Gaben des Schöpfers handelt, wird sogar davon abgeraten, überhaupt irgendetwas als Eigentum anzusehen (4,8). Die Abwendung von den Armen und das Unterstützen der Reichen wird in unmittelbaren Zusammenhang mit dem Verkennen des Schöpfers gebracht (5,2). Die Erstlingserträge sollen entweder den prophezeienden Gemeindegliedern oder den Armen gegeben werden (11,3–7).
Man könnte mit der Didache also beides rechtfertigen: sowohl das Aufgeben dieser Erde als auch die Wertschätzung dieser Schöpfung und der verantwortungsvolle Umgang mit den vorhandenen Ressourcen. Wahrscheinlich ist mit der Erde, die den Sanftmütigen als Erbe versprochen wird (3,7), gar nicht eine neue Erde – also kein Planet B – gemeint, nachdem der gegenwärtige Kosmos vergangen sein wird, sondern ein- und dieselbe Erde, auf der wir leben, als eine neue, transformierte Schöpfung.
Drei Haupterkenntnisse lassen sich aus den skizzierten Beobachtungen festhalten:
1. Die Schöpfungstheologie der Didache erwähnt nur beiläufig die creatio prima. Der Fokus liegt auf Gottes kontinuierlichem Schöpfungshandeln in der Gegenwart (creatio continua) sowie der zu erwartenden Neuschöpfung (creatio nova). Gott versorgt seine Geschöpfe mit seinen Gaben, um Leben zu ermöglichen und zu erhalten. Er wird den Sanftmütigen die Erde als Erbe geben.
2. Verschiedene anthropologischen Konsequenzen der Schöpfungstheologie stehen in Spannung zueinander. Einerseits möchte Gott als Vater, dass alle seine Kinder Anteil an seinen Gaben bekommen, weswegen man bereitwillig teilen soll. Andererseits wird die Hierarchie von Versklavten und Versklavenden in einer problematischen Art und Weise schöpfungstheologisch begründet, da die Versklavenden als Abbilder Gottes bezeichnet werden.
3. Obwohl die Didache nicht vorschnell als „grüne“ Schrift vereinnahmt werden sollte, hat sie verheißungsvolles ökotheologisches Potenzial. Man findet eine Wertschätzung der Natur, Warnungen vor habgierigem Ausbeuten und die Hoffnung auf das Erben der Erde.
Competing interests
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