In den heutigen Geschichten der deutschen Literatur stoßen Musäus und seine Volksmärchen auf Gleichgültigkeit, Mangel an Interesse oder ausgesprochene Abneigung und Geringschätzung. Josef Nadler speist in seiner umfangreichen vierbändigen Literaturgeschichte Musäus mit einer kurzen Erwähnung ab. Alois Bernt berichtet in seinem Handbuch der deutschen Literaturgeschichte: “Musäus hat nichts von dem innigen Verhältnis zum Volkstum und seiner Überlieferung, wie es Herder empfand; hier werden eben bloß ältere Stoffe in unterhaltlicher Aufmachung einem größeren Publikum vorgeführt, darunter auch die fünf Legenden vom Rübezahl.” Karl Storck schreibt in der zehnten Auflage seiner Deutschen Literaturgeschichte: “Unter Wielands Nachahmern ragt Johann Karl August Musäus hervor. Er ist hauptsächlich bekannt durch seine ‘Volksmärchen der Deutschen.’ Als echter Wielandschüler hat er kein Verständnis für die gläubige Naivität und Naturfrische dieser Volksdichtung.” Erstaunlicherweise erwähnt Ferdinand Joseph Schneider in seiner Deutschen Dichtung vom Ausgang des Barocks bis zum Beginn des Klassizismus 1700-1785 (Stuttgart, 1924), die als dritter Band der bekannten “Epochen der deutschen Literatur” erschienen ist, Musäus’ Märchen überhaupt nicht. Ebensowenig würdigt Hans Röhl in seiner verbreiteten, für Schule und Haus bestimmten Geschichte der deutschen Dichtung, 8. Auflage (Leipzig und Berlin, 1931), den armen Musäus auch nur eines einzigen Wortes. In seinem kleinen Wörterbuch zur deutschen Literatur (Leipzig und Berlin, 1921; 2. Aufl., ibid., 1931) verzeichnet Röhl Musäus als den “Herausgeber der ‘Volksmärchen der Deutschen,’ in denen er allerdings Volkssagen wie die vom Grafen von Gleichen, von Libussa, von Rübezahl usw. gesammelt, aber mit satirisch-moralischer Tendenz in Wielands Art dargestellt hat.” Diese Erwähnung ist besonders bezeichnend, da Hans Röhl ja stets ein getreues Echo der traditionellen Bewertung von Literaturdenkmälern ist. Es ist seltsam, daß Röhl dem Verfasser der Volksmärchen moralische Tendenzen anhängt, wo doch gerade Musäus ein Unikum von moralischer Unbefangenheit darstellt. Ersichtlich hat sich Röhl ebensowenig wie die anderen genannten Verfasser in die Lektüre der Volksmärchen vertieft. Als Erich Schmidt-Schüler folgt er der herablassenden Bemerkung Wilhelm Scherers in der Geschichte der deutschen Literatur: “… Musäus, ein Erzähler der Wielandschen Richtung, dessen ironisch vorgetragene altdeutsche Sagen, ‘Volksmärchen der Deutschen,’ wie er sie nannte, ihre Beliebtheit noch heute [1883] nicht ganz verloren haben.” Der bekannte Schopenhauer-Anhänger und -Herausgeber Eduard Grisebach schreibt in seiner Behandlung der Novelle von der treulosen Witwe nach einem kurzen Zitat aus der Erzählung “Liebestreue,” die Musäus im dritten Teil seiner Volksmärchen bringt: “In dieser unerträglich widerwärtigen, witzelnden, mit geschmacklos angewandten Fremdwörtern kokettierenden Manier verunstaltet dieser Weimarer Schullehrer die herrlichsten Märchenstoffe.” Musäus ist von den zeitgenössischen Literarhistorikern recht schlecht behandelt worden. Auch in einer Leipziger Doktor-Dissertation, die unter der Ägide von Albert Köster erschienen ist, äußert sich ihr Verfasser, Erwin Jahn, ungünstig über die Behandlung, die Musäus den Märchenstoffen hat angedeihen lassen: “Eine gänzliche Ahnungslosigkeit über den Sinn und die Bedeutung dessen, was wir im Märchen als wunderbar empfinden, spricht sich darin aus.” Selbst wenn wir hundert Jahre zurückgehen, wird das Urteil nicht günstiger. Der Märchenerzähler Ludwig Bechstein ist in seinem mit Recht vergessenen wissenschaftlichen Werk Mythe, Sage, Märe und Fabel im Jahre 1855 in seinem Urteil zwiespältig. Einigermaßen lobend schreibt er: “Durch und durch Gemütsmensch [dies ist übrigens das letzte, was man zu Musäus’ Gunsten anführen könnte], erschien er als der glückliche Finder der Wunderblume, der Wiederfinder und Wiedererwecker des verlorenen Märchens, wenn auch, was er Märchen nannte, nicht eigentlich Märchen sind.” Dann aber bemerkt er grimmig von der Erzählung “Richilde”: “Richilde, nach Brabant verlegt, ist das Märchen von Schneewittchen, widerwärtig modernisiert und der Anmut des einfachen Märchens völlig entkleidet.” Bechstein findet, man müsse sich von Musäus' Stil und seiner Behandlungsweise verletzt abwenden. Zu loben weiß er eigentlich nur die Verbindung von Märchen und Volk, wie sie sich schon in dem Titel Volksmärchen der Deutschen, den Musäus seinem Werk gegeben hat, ausdrückt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vernehmen wir ein uneingeschränktes Lob unseres Musäus nur aus einem bedeutenden Munde. Der große Humorist Wilhelm Busch weiß die Kunst der Volksmärchen wohl zu schätzen. Er hat ein volles Verständnis für das “Zopfbild” ihres Stils und ist überzeugt, daß eine Erzählung wie “Stumme Liebe” noch gelesen werden wird, wenn die damals gerade im Vordergrund des Interesses stehende thüringische Erzählung Otto Ludwigs “Die Heiteretei” längst vergessen ist.