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Motivverwandtschaft und Motivverwandlung in Der Deutschen Novelle Des 19. Jahrhunderts

Published online by Cambridge University Press:  02 December 2020

Gabriele Humbert*
Affiliation:
Vassar College

Extract

Die Bewertung der deutschen Novelle als eigengesetzliche Kunstform ist noch immer umstritten, da die Fülle von Theorien, die ihren Entwicklungsgang begleiten, bei manchem Forscher den Eindruck hinterlassen haben, als sei sie nur eine kürzere und individuell wandelbare Spielart der hohen Epik. Sie übersehen dabei, daß die Kernsätze jener theoretischen Erörterungen bei allen scheinbaren Widersprüchen nur verschiedene Seiten der Novellenkomposition beleuchten und für die Scheidung der Novelle von andern epischen Formen ihre Gültigkeit bewahren, wenn man ihren persönlichen und zeitbedingten Gehalt mit berücksichtigt. Goethes betrachtendes Auge ruht auf dem Inhalt, wenn er die Novelle nichts anderes “als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit” nennt. Tiecks romantisch-ironische Vielseitigkeit fügt den “überraschenden Wendepunkt” als Wesensmerkmal des Ablaufs einer solchen mehr oder weniger wunderbaren Begebenheit hinzu. Heyses technische Virtuosität prägt den Begriff der “Silhouette” für ihren äußeren Umriß und entlehnt von Boccaccios Novelle den “Falken” als Symbol für ihren kompositorischen Kern. Wenn der nachdenklichgrübelnde Storm die Novelle als “die Schwester des Dramas und die strengste Form der Prosadichtung” bezeichnet, die “gleich dem Drama die tiefsten Probleme des Menschenlebens behandelt,” so erfaßt er ihre kunstphilosophische Bedeutung und stellt eine These auf, die erst in jüngster Zeit von Bruch und Pongs durchgefochten wurde, von Bruch als Analytiker der absoluten, von der Einzelerscheinung losgelösten Form, von Pongs als Synthetiker, der die Kausalität im Schaffen des Dichters gleichzeitig mit den Forderungen der formalen Werte sieht.

Type
Research Article
Information
PMLA , Volume 51 , Issue 3 , September 1936 , pp. 842 - 850
Copyright
Copyright © Modern Language Association of America, 1936

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References

1 Goethe, Gespräche mit Eckermann, 29. Jan. 1827.

2 Tieck, Ludwig, Schriften (1829), Bd. xi, Vorbericht z. 3. Lfg., S. lxxxvi.

3 Heyse, Paul, Jugenderinnerungen und Bekenntnisse, 3. Aufl., S. 347 ff. (zit. Heyse, Bekenntnisse).

Heyse, Paul, Deutscher Novellenschatz, 1871–76, Einleitg., S. xix–xx.

4 Der Briefwechsel zwischen Theodor Storm und Gottfried Keller, hrsg. v. A. Köster (Berlin, 1904), (zit. Köster, Briefwechsel).

Brief v. 14. Aug., S. 116; Auszug aus einer Rede Storms im Besitze Erich Schmidts, S. 119.

5 Bruch, Bernhard, “Novelle und Tragödie: Zwei Kunstformen und Weltanschauungen,” Zs. f. Ästhetik, xxii (1928), 292–330.

6 Pongs, Hermann, “Möglichkeiten des Tragischen in der Novelle,” Jb. d. Kleistgesellschaft 1931/32, hrsg. v. O. Walzel, S. 53 ff. (zit. Pongs, Möglichkeiten).

7 Pongs, Hermann, “Grundlagen der deutschen Novelle d. 19. Jhdts.,” Jb. d. Freien Deutschen Hochstifts (Frankfurt a. Main, 1930) (zit. Pongs, Grundlagen).

8 Pongs, Grundlagen, S. 175, 191 ff.

9 A.a.O., S. 175, 184 ff.

10 v. Grolman, Adolf, “Die strenge Novellenform und die Problematik ihrer Zertrümmerung,” Zs. f. Deutschkunde (1929); vgl. auch Grolmans Artikel “Novelle,” Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte (1926–28).

11 Pongs, Grundlagen, S. 212 ff.

12 Pongs, Grundlagen, S. 207 f. Pongs sieht im “Bettelweib” trotz der straffen Komposition bereits eine Öffnung der Novellenform durch Kleist, der “die sichere Vereinigung der geschlossenen Novellenform in ihrer Bezogenheit auf den Menschen mit ihrer vollen Öffnung für das Metaphysisch-Wunderbare für die Novelle neu erobert habe. Damit mißt P. aber die Form mit einem vorwiegend inhaltlich gerichteten Maßstabe einer realistischen Kunstanschauung und betrachtet die Öffnung nicht als eine Frage der Komposition, sondern als eine des Stoffes an sich. Gehalt und Gestalt sind voneinander abhängig und wechselseitig bedingt, sie sollten aber bei der Analyse des Kunstwerks reinlich auseinandergehalten werden, soweit sie im kompositorischen Sinne als Inhalt und Form erscheinen.

13 Pongs, Grundlagen, S. 180–184. Auch Heyse hat bereits das Grundmotiv als Ausgangspunkt der Komposition erfaßt, wenn auch handwerksmäßiger: Bekenntnisse, S. 353; vgl. auch Storm bei Köster, Briefwechsel, S. 119.

14 Unger, Rudolf, “Literaturgeschichte als Problemgeschichte,” Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte (1929), S. 137–170, (zit. Unger, Problemgeschichte).

15 Pongs, Grundlagen, S. 173 f.; Schiller, Werke, hrsg. v. Bellermann, iii, 272 f.

16 Pongs, Möglichkeiten, S. 53 ff.; Kleist, H. v., Werke, hrsg. v. Erich Schmidt (Berlin, 1902), iii, 129 ff.

17 Pongs, Möglichkeiten, S. 72–75; Droste-Hülshoff, Annette v., Die Judenbuche.

18 Unger, Problemgeschickte, S. 154.

19 Schiller, “Verbrecher aus verlorener Ehre,” a.a.O., S. 275 ff.

20 Kleist, Michael Kohlhaas, a.a.O., S. 141.

21 Pniower, Otto, “Heinrich v. Kleists Michael Kohlhaas,” Dichtungen und Dichter (Berlin, 1912), S. 193 ff. Pniower sieht in der Zigeunerin-Episode nur die Absicht Kleists, der Erzählung Zeitkolorit zu verleihen, da er die Anregung zu der Gestalt aus den Quellen empfangen habe (S. 196).

22 1837, erste Aufzeichnung der “Judenbuche”; 1839, zweite Fassung; endgültige Fassung 1841 (nach Hüffer, Hermann, Annette v. Droste-Hülshoff und ihr Werk [Gotha, 1887], S. 246–247). Im August 1839 nimmt sie die Arbeit an der 2. Hälfte des “Geistlichen Jahres” auf, beendet es im Dezember 1839 oder Januar 1840. Vgl. dazu Weldemann, August, Die religiöse Lyrik des deutschen Katholizismus, Diss. (Leipzig, 1911), S. 82–99.

23 Brentano, Clemens, Werke, hrsg. v. Max Preitz (Leipzig u. Wien, 1914), i, 345 ff.

24 Raabe, Wilhelm, Gesammelte Erzählungen (Berlin, 1896), i, 24–66.

25 Meyer, C. F., Sämtliche Werke, Berlin, iv, 7–146.

26 Der volle Symbolgehalt wird von Robert Faesi in seiner Einführung zu Meyers Werken, a.a.O., iv, 305–309, auf das feinste gedeutet.