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LXIX. Goethes Polaritätsidee und die Wahlverwandtschaften
Published online by Cambridge University Press: 02 December 2020
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“Tous les Janus de Rome ne suffiraient pas à représenter toutes les oppositions, tous les contrastes—ou, si l'on veut, toutes les synthèses qu'il y a dans Goethe. C'est presque un jeu de les trouver en lui, et ce jeu fait même douter s'il ne s'était pas fait un système de cultiver exactement les contraires”.
In Goethes Naturphilosophie spielt das Polaritätssymbol eine bedeutende Rolle. Ewald A. Boucke, dem wir die grundlichste und umfassendste Darstellung der Bedeutung dieses Symbols auch für Goethes Weltanschauung im weiteren Sinne verdanken, zeigt im einzelnen, dafi die bei Goethe von Anfang an vorhandene vitalistisch-dynamische Grundanschauung teils in selbständig-spontaner Entwicklung, teils infolge “anregender Momente” theoretischer Art, teils infolge naturwissenschaftlicher Studien allmahlich so weit gedieh, daß er in der Einleitung in die Propyläen bereits im Jahre 1797 in der Polaritatsidee ein allgemeines Naturgesetz vermutete. Da Goethe sich das Naturgeschehen als das Resultat eines räumlich und zeitlich verlaufenden Antagonismus von dynamischen Kraften vorstellte, zugleich aber das gesamte Naturgeschehen als einheitlich-organischen Prozeß zu ecfassen strebte, glaubte er die mannigfachen Formen dieses Antagonismus unter dem Polaritatssymbol als einer prägnanten “Formel” zusammenfassen zu konnen. Weiterhin weist Boucke nach, daß Goethe sich nicht damit begnugte, naturwissenschaftliche Phänomene verschiedenster Art mit seiner Polaritätsidee in Verbindung zu bringen, sondern sie auch seit etwa 1800 gleichnisartig auf weite Gebiete des sittlichen und geistigen Lebens in Anwendung brachte.
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- Research Article
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- Copyright © Modern Language Association of America, 1939
References
1 Paul Valéry, “Discours en l'honneur de Goethe,” La nouvelle Revue française, Juni 1932.
2 Ewald A. Boucke, Goethes Weltanschauung auf historischer Grundlage. Ein Beitrag zur Geschichte der dynamischen Denkrichtung und Gegensatzlehre (Stuttgart, 1907).
3 Boucke, S. 218–254.
4 Besonders seitens Herders, Kants, Schellings und des Tübinger Professors K. Fr. Kielmeyer (vgl. Boucke, S. 237 ff.)—Das Wort “Polarität” begegnet bei Goethe zuerst unter dem Jahre 1792 in seinem Bericht über die Kampagne in Frankreich, wo er sich über die kosmische Philosophie Kants ausspricht: “Ich hatte mir aus Kants Naturwissenschaft nicht entgehen lassen, daβ Anziehungs- und Zurückstoβungskraft zum Wesen der Materie gehören und keine von der anderen im Begriff der Materie getrennt werden könne; daraus ging mir die Urpolarität aller Wesen hervor, welche die unendliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen durchdringt und belebt.” Goethe, Werke (Weimar), i, 33,196.—Daβ der Ausdruck Goethe im Jahre 1792 wirklich bereits geläufig war, erhärtet ein Brief an Sömmering vom 2. Juli 1792, in dem sich der Dichter, diesmal ohne Bezug auf Kant, mit dem Problem der Farbenentstehung befaβt: “Mir scheint wenigstens für den Augenblick, daβ sich alles gut verbindet, wenn man auch in dieser Lehre zum Versuch den Begriff der Polarität zum Leitfaden nimmt, und die Formel von aktiv und passiv einstweilen hypothetisch ausspricht.” Werke, iv, 9, 317.
5 Auf dem Gebiet der Botanik und Farbenlehre; vor allem aber die im Frühjahr 1797 durch die Anwesenheit Alexander von Humboldts in Jena angeregten magnetischen und elektrischen Experimente, von denen Boucke (S. 243) sagt: “Die andauernde Beschäftigung mit den magnetischen und elektrischen Versuchen brachte Goethe die Gewiβheit über den dualistischen Charakter dieser und anderer Naturphänomene, und das Studium von Schellings Erstlingsschriften gab dieser Gewiβheit die theoretische Basis.”
6 Werke, i, 47, 16.
7 Werke, ii, 1, X f.
8 Werke, ii, 1, 305.
9 Boucke, S. 5.
10 Boucke betont (S. 249 f.), daβ “die Polaritätsidee als ein Hilfsmittel gegenständlichen Denkens nur bildlichen oder symbolischen Wert besitzt und nicht imstande ist, einen einzelnen Vorgang, sei es in Natur oder Geschichte, rein sachlich abzuleiten und zu begründen.”
11 Goethe betont wiederholt, daβ er durch Anwendung gewisser “Formeln” den Dingen “wenigstens gleichnisweise beizukommen” strebe—so z. B. in der in diesem Zusammenhang ebenso charakteristischen wie aufschluβerichen Schluβbetrachtung über Sprache und Terminologie in der Farbenlehre (Werke, ii, 1, 302 ff.). Daβ der Dichter nun in all seinen Äuβerungen über “Polarität”—die sich ja über eine lange Reihe von Jahren erstrecken—stets die gleiche Vorsicht angewandt habe, läβt sich allerdings nicht behaupten.
12 Boucke, S. 248.—Ein Verfahren, das an Vaihingers Philosophie des Als-Ob erinnert, wonach “die abstrakten und allgemeinen Begriffe nur bequeme Denkmittel [sind], Werkzeuge, ‘Kunstgriffe des Denkens’, zweckmäβige Fiktionen zur Beherrschung des anschaulich gegebenen Erfahrungsmaterials.” Eisler, Handwörterbuch der Philosophie, 2. Aufl. (1922), S. 89.
13 Ueber den Zusammenhang dieses Symbols mit der Idee der Perfektibilität in der Kulturphilosophie des 18. Jh. vgl. Boucke, S. 196 ff.
14 Werke ii, 11, 165 f.
15 Werke, ii, 11, 11.
16 Dichtung und Wahrheit, Werke, i, 27, 110.
17 Werke, iii, 1, 112.
18 Die Technik der Jugenddramen Goethes. Ein Beitrag zur Psychologie der Entwicklung der Dichters (Weimar, 1932), S. 267.—Ob man nun auch Martinis an Hand von Wundts “Gesetz der Entwicklung in Gegensätzen” und auf Basis der psychologisch-pathologischen Studien von Möbius, Jung und Kretschmer aufgestellten Theorie einer durchgehenden psychologischen Entwicklung des Dichters in einer regelmäβigen Abfolge gegensätzlicher “Gefühls-” und “Verstandeszeiten” restlos annehmen kann, bleibt immerhin fraglich.
19 So die Idee der “Ausdehnung und Zusammenziehung” in den schon vor 1790 liegenden botanischen Studien. Uebrigens verwandte Goethe auch späterhin den Ausdruck “Polarität” selbst verhältnismäβig selten und zog es vor, den im einzelnen Falle gegebenen Bedingungen gemäβ von Systole und Diastole, Synkrisis und Diakrisis, Zusammenfassung und Trennung und einer ganzen Reihe weiterer Begriffspaare Gebrauch zu machen.
20 Boucke, S. 258.
21 Friedrich Gundolf, Goethe, S. 557.
22 Werke, i, 411, 34.
23 Mit Eckermann, 6. Mai 1827.—H. G. Gräf, Goethe über seine Dichtungen, i, 482.
24 André François-Poncet, Les Affinités électives de Goethe (Paris, 1910), S. 193.
25 Boucke, S. 361. Daselbst auch das folgende Zitat: “Die sittlichen Symbole in den Naturwissenschaften (z.B. das der ‘Wahlverwandtschaften’ vom groβen Bergman erfunden und gebraucht) sind geistreicher und lassen sich eher mit Poesie, ja mit Sozietät verbinden, als alle übrigen, die ja auch, selbst die mathematischen, nur anthropomorphische sind, nur daβ jene dem Gemüt, diese dem Verstände angehören.” Mit Riemer, 24. Juli 1809—Gräf, i, 386.
26 Die im Text erscheinenden Zahlen in Klammern beziehen sich auf die jeweilige Seite der Wahlverwandtschaften, Werke, i, 20.
27 Gundolf, S. 552.
28 Gundolf, S. 557.
29 In dem Gegensatzpaar Eduard: der Hauptmann ist vielleicht eine jener vielen Goetheschen Janusfiguren von “Gefühls-” und “Verstandesmensch” zu sehen (vgl. Boucke, S. 401). Dabei ist allerdings zu bemerken, daβ Eduard fast alle tieferen und sympathischen Charaktereigenschaften abgehen, mit denen der Dichter in den früheren Werken seine “Gefühlsmenschen” auszeichnet.
30 François-Poncet, S. 120.
31 Wie der parallele Fall des Grafen und der Baronesse soll wohl auch die Novelle in gewisser Hinsicht ein Gegenbild zu den “Wahlverwandtschaften” der vier Hauptpersonen darstellen: “L'épisode du Comte et de la Baronne nous montrait précédemment un cas d'affinités électives en conflit avec le mariage, qui était résolu sans drame, mais aux dépens de la morale. Celui-ci nous montre un cas plus compliqué, plus dramatique, mais qui finit également de façon heureuse. Enfin le roman même nous montrera un cas encore plus étrange, encore plus dramatique, et qui'aura un dénouement tragique.” François-Poncet, S. 186.—Auch die sonderbare “Wahlverwandtschaft” der “wunderlichen Nachbarskinder” wird wohl auf Vorstellungen zurückzuführen sein, die mit der Polaritätsidee zusammenhängen: aus einem anfänglich heftigen wechselseitigen “Abstoβen”—“… immer aufbauend für sich allein, immer wechselsweise zerstörend, wo sie sich begegneten … gutartig durchaus und liebenswürdig, und nur hassend, ja bösartig, indem sie sich aufeinander bezogen” (323)—entwickelt sich eine unwiderstehliche Anziehung in ebendem Augenblick, da die “schöne Nachbarin” eine Konvenienzehe eingehen will.
32 François-Poncet, S. 193.
33 François-Poncet, S. 216.
34 “Elle [Ottilie] n'aperçoit point les dangers de l'amour qui la pousse vers Édouard parce que sa loi est d'aimer, comme la loi d'une fleur est d'ouvrir ses pétales. Elle porte en elle sa destinée qui se déroule avec la même nécessité que l'évolution des êtres dans le monde.” François-Poncet, S. 249.
35 “Mittler paraît surtout pour représenter le rôle du bon sens, de la sagesse vulgaire et de la morale commune. Prenons garde que Mittler, qui signifie ‘médiateur’, peut facilement signifier: qui est au milieu, l'homme moyen. En face des quatre personnages principaux du roman, qui appartiennent tous à une humanité d'élite, Mittler représente l'humanité moyenne.” François-Poncet, S. 91.
36 Mit Riemer, Dez. 1809—Gräf, i, 427.
37 François-Poncet mag somit recht haben, wenn er Ottilie als “plus que Kantienne” bezeichnet: “Elle ne trouve pas la loi morale au fond de son cœur. Elle l'élabore spontanément. Cette spontanéité peut faire croire qu'Ottilie n'est pas plus responsable de sa conversion que de son amour; c'est au contraire la marque de son excellence. C'est parce que l'impératif moral émane naturellement de sa pensée, sans effort et tout d'un coup, qu'elle réalise le plus haut degré de perfection humaine.” François-Poncet, S. 263.
38 François-Poncet, S. 84.
39 Rudolf Abeken.—Gräf, i, 442.
40 Im Zusammenhang mit dem damals besonders starken Bestreben des Dichters nach harmonischem Ausgleich entgegengesetzter Tendenzen ist, wie François-Poncet (146) feinfühlig erörtert, die Figur des Architekten von besonderem Interesse: “L'architecte des Affinités nous donne ainsi une idée exacte de l'état d'esprit dans lequel se trouve Goethe à cette époque; il regrette l'usage des urnes cinéraires, et des sarcophages sculptés; il dessine des projets de mausolées; il a visiblement une culture antique, il s'est visiblement formé aux modèles classiques. Cependant il apprécie le moyen âge, le style de ses églises et le talent de ses peintres et de ses graveurs, et il s'en inspire pour décorer sa chapelle. Cet éclectisme, ou viennent se mêler deux courants opposés, c'est celui de Goethe, c'est celui vers lequel il s'achemine, c'est tout au moins un éclectisme qu'il approuve et qu'il décrit avec infiniment d'indulgence.”
41 Dabei stimmen die beiden Stellen fast wörtlich genau überein.
42 Gundolf, S. 562.
43 Man beachte dabei die sorgfältig durchgeführte Kontrast-Parallele zwischen den männlichen Tugenden des gestürzten Feldherrn und den weiblichen der früh verstorbenen Ottilie, beide der “bedürftigen Welt” unentbehrlich.
44 Ueberraschend häufig: S. 6; 13; 51; 76; 80; 114; 133; 144; 226; 287; 323; 327; 353; 372.
45 Namentlich in der auffallend weitgehenden Verwendung des Konzessivsatzes und der charakteristischen, antithetische Elemente gegeneinander abwägenden Perioden. Diese Neigung zu antithetischer Ausdrucksweise (die auch in den Wanderjahren besonders stark hervortritt) ist überhaupt ein unverkennbares Merkmal des stark polaren Charakters im Denken und Stil des alten Goethe.
46 Man vergleiche auch: S. 33; 72; 280 f.; 295; 296; 349 f.; 379.
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- Cited by