Published online by Cambridge University Press: 14 September 2016
Is Christianity a ‘religion of (canonical) books or a ‘religion of memories’? What role did the books that would eventually become canonical play in various early Christian contexts? This article explores the history of the canon, especially in relation to early Christian ‘landscapes’ and ‘places of memory’. The role of ‘canonical’ and so-called ‘apocryphal’ writings in the construction and development of these ‘places of memory’ is discussed. It is argued that instead of labelling the latter works ‘apocryphal’, it would be better to call them ‘useful for the church’.
German abstract: Die Erforschung der Geschichte des neutestamentlichen Kanons konzentriert sich üblicherweise auf die Geschichte seiner Entstehung und Durchsetzung. Welche Rolle jedoch spielte der neutestamentliche Kanon bzw. spielten die Bücher, aus denen er sich zusammensetzt, in verschiedenen Lebenskontexten antiker Christen, von denen viele nicht oder kaum lesen konnten oder wenigstens kaum Zugang zu Büchern hatten? Der vorliegende Beitrag greift die Vorstellung „kollektiver Erinnerung“ (M. Halbwachs) auf. Am Beispiel von Berichten antiker Palästinapilger sowie anhand spätantiker Apostelerzählungen (Akten des Philippus, Akten des Barnabas sowie Titusakten) wird gezeigt wie Erzählungen, schriftlich niedergelegte, darunter auch kanonisch gewordene Texte, konkrete Orte, daran gebundene Rituale sowie weitere Medien komplex verknüpfte und sich dynamisch ändernde „Erinnerungslandschaften“ (P. Nora) bilden können, die für das Verständnis des antiken Christentums als einer Religion bzw. eines Kults nicht nur des Buches, sondern auch als einer Religion kollektiver Erinnerungen von hoher Bedeutung sein dürften.
1 Wichtige Impulse hierzu auf der Tagung „Neue Perspektiven auf die Entstehung des Neuen Testaments“ (28.–30. Mai 2015 in Barcelona), deren Proceedings in einem Sonderheft der Zeitschrift Early Christianity erscheinen werden.
2 Klassisch sind sicher die Werke von H. v. Campenhausen, Die Entstehung der christlichen Bibel. Mit einem Nachwort von Christoph Markschies (BHTh 39; Tübingen: Mohr Siebeck, Nachdruck 2003)Google Scholar und Metzger, B. M., The Canon of the New Testament: Its Origin, Development, and Significance (Oxford: Clarendon, 1997²)Google Scholar. Mein eigenes Verständnis der Geschichte der Entstehung des neutestamentlichen Kanons habe ich in folgenden Publikationen zum Ausdruck gebracht: Nicklas, T., „The Development of the Christian Bible“, What is Bible? (Hg. K. Finsterbusch /A. Lange; Contributions to Biblical Exegesis and Theology 67; Leuven: Peeters, 2012) 393–426 Google Scholar; „Christian Apocrypha and the Development of the Christian Canon“, Early Christianity 5 (2014) 220–40Google Scholar; und „Neutestamentliche Kanongeschichte als Geschichte eines Buches?“, In Mari Via Tua: Philological Studies in Honour of Antonio Piñero (Hg. I. Munoz Gallarte et al.; Éstudios Filologia Neotestamentaria 11; Cordoba: Almendro, 2016) 575–95Google Scholar.
3 Man denke nur an die lange Zeit im Osten umstrittene Offenbarung des Johannes oder an die Tatsache, dass in armenischen Handschriften sich bis weit ins Mittelalter hinein ein dritter Korintherbrief erhalten hat.
4 Die „Geschichte des neutestamentlichen Kanons“ ist ja nicht einfach gleichzusetzen mit der Geschichte seiner Entstehung.
5 Die Frage nach dem Bezug des Kanons zu bestimmten, hier institutionellen Kontexten wird besonders deutlich bereits bei Chr. Markschies, Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen: Prolegomena zu einer Geschichte der christlichen Theologie (Tübingen: Mohr Siebeck, 2007) 334–6Google Scholar, hergestellt.
6 Wenn man bedenkt, wie viel es kosten musste, einen Schreiber, normalerweise wohl einen Sklaven, zu beauftragen, einen längeren Text zu kopieren, mag dies noch deutlicher werden.
7 Ich verwende den Begriff „Religion“ mit gewisser Zurückhaltung – man könnte auch von einem „Kult“ oder einer „Bewegung“ sprechen, müsste dann aber genauer den Begriff definieren, der jedoch für die folgende Argumentation nicht von entscheidender Relevanz sein wird. Zur Kritik an einer allzu schnellen Übertragung neuzeitlicher Ideen auf den antiken Begriff von „Religion“ vgl. die erhellenden Gedanken bei B. Nongbri, Before Religion: A History of a Modern Concept (New Haven/London: Yale University Press, 2013 Google ScholarPubMed).
8 Vom Christentum als einer „Erinnerungsreligion“ ist neuerdings die Rede in dem Beitrag Chr. Markschies/H. Wolf, „‚Tut dies zu meinem Gedächtnis!’ Das Christentum als Erinnerungsreligion“, Erinnerungsorte des Christentums (Hg. Chr. Markschies/H. Wolf; München: C. H. Beck, 2010) 10–27 Google Scholar – das in der ehrgeizigen Einleitung vorgelegte Programm wird im Band jedoch nicht von allen Beiträgen in gleichem Maße eingeholt. – Der Begriff „Erinnerung“ wiederum versteht sich als dynamisches Konzept: Der Bezug zwischen Gegenwart und Vergangenheit wird sozial vermittelt, er kann sich in verschiedenen Kontexten verändern, genauso wie Erinnerungsorte sich verändern bzw. verschieben können.
9 MacMullen, R., The Second Church: Popular Christianity ad 200–400 (SBL Writings from the Ancient World, Supplement 1; Atlanta: Scholars, 2009)Google Scholar.
10 Zur Problematik dieses Begriffs vgl. z.B. A. Merkt, „‚Volk’: Bemerkungen zu einem umstrittenen Begriff“, Volksglaube im antiken Christentum (Hg. A. Merkt/H. Grieser; Darmstadt: WBG, 2009) 17–27 Google Scholar.
11 Ein Problem des Begriffs „Landschaften“ könnte darin gesehen werden, dass mit dem Begriff üblicherweise statische Assoziationen verbunden werden, diese Landschaften aber sich durchaus in wechselnden historischen Kontexten ändern, ihnen eine gewisse Dynamik innewohnt. Vor diesem Hintergrund könnte man auch an den Begriff „Erinnerungsenzyklopädien“ denken – eine Idee von Michael Sommer (private Nachricht vom 1.7. 2015), dem ich hierfür zu Dank verpflichtet bin.
12 Nora, P., Les Lieux de mémoire (3 Bde.; Paris: Gallimard, 1984–92)Google Scholar.
13 Halbwachs, M., Les cadres sociaux de la mémoire (Paris: Alcan, 1925)Google Scholar und La mémoire collective (Paris: Presses Universitaires de France, 1950)Google Scholar. Leider erlaubt der Umfang des Vortrags nicht, genauer auf die bei Halbwachs, Nora, aber auch anderen Autoren zugrunde liegenden Konzepte und ihre Differenzierungen einzugehen.
14 So auch das Konzept des von Markschies und Wolf edierten, eben angesprochenen Bandes, der unter Erinnerungsorten des Christentums zwischen „realen“ und „übertragenen Orten“ differenziert und dabei unter den übertragenen Orten etwa die „Bibel“, „Feste im Kirchenjahr“, „Kreuz“, „Maria“, aber auch „Pfarrhaus“ und „Schule“ versteht.
15 Lipsius, R. A., „Die Acten des Barnabas“, Die apokryphen Apostelgeschichten und Apostellegenden: Ein Beitrag zur altchristlichen Literaturgeschichte, Bd. ii.2 (Braunschweig: Schwetschke & Sohn, 1884) 270–320 Google Scholar.
16 Übersetzung T. Nicklas, „Die Akten des Barnabas: Neuinterpretation und Übersetzung“, Studien zum Petrusevangelium und zu anderen christlichen Apokryphen (WUNT; Tübingen: Mohr Siebeck, im Druck).
17 Übersetzung Nicklas, „Akten des Barnabas“.
18 Die Zeichnung der Trennung der beiden Apostel in Antiochia in den Akten des Barnabas weist auch keinerlei Bezüge zur kanonischen Erzählung vom Antiochenischen Zwischenfall auf (Gal 2,11–21).
19 Diese Tradition ist bereits in Eusebius, h.e. 2,24 sowie 4,11,6; ausführlich thematisiert ist sie in den Akten des Markus, die sicherlich in literarischem Zusammenhang mit den Akten des Barnabas zu sehen sind.
20 Zur konkreteren Datierung nach 488 vgl. M. Starowieyski, „Datation des Actes (Voyages) de S. Barnabé (BHG 225; ClAp 285) et du Panégyrique de S. Barnabé par Alexandre le Moine (BHG 226; BPG 7400; ClAp 286)“, Philohistôr: miscellanea in honorem Caroli Laga Septuagenarii (Hg. A. Schoors/P. Van Deun; Orientalia Lovaniensia Analecta 60; Leuven: Peeters, 1994) 193–8, bes. 197–8Google Scholar.
21 Zu dieser wenig bekannten Schrift ist m.W. immer noch in erster Linie Lipsius, Die apokryphen Apostelgeschichten, 298–304 zu konsultieren. Der Text selbst, der in seinen beiden ersten Kapiteln die Barnabasakten aufgreift und in vielerlei Hinsicht erweitert, im dritten Kapitel dann die Auffindung des Grabes beschreibt, kann als ein schönes Beispiel dafür dienen, wie schwimmend auch die Grenzen zwischen apokrypher und hagiographischer Literatur sind.
22 Übersetzung T. Nicklas, „Die Akten des Titus: Rezeption ‚apostolischer’ Schriften und Entwicklung antik-christlicher ‚Erinnerungslandschaften’“, Early Christianity 6 (im Druck).
23 Barrier, J. W., The Acts of Paul and Thecla (WUNT ii.270; Tübingen: Mohr Siebeck, 2009) 187Google Scholar, erwägt zudem das syrische Seleucia Pieria, halt dies jedoch für „less likely“.
24 Über den konkreten Hintergrund der Figur der Egeria (auch als Aitheria bezeichnet) wurde viel diskutiert, über Spekulationen hinaus lässt sich jedoch kaum Konkretes aussagen. Campbell, Hierzu z.B. M. B., The Witness and the Other World: Exotic European Travel Writing, 400–1600 (Ithaca/London: Cornell University Press, 1988) 20–1Google Scholar.
25 Donner, Übersetzung H., Pilgerfahrt ins Heilige Land: Die ältesten Berichte christlicher Palästinapilger (4.–7. Jh.) (Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 2002) 131–2Google Scholar.
26 Davis, Hierzu S., „Pilgrimage and the Cult of Saint Thecla in Late Antique Egypt“, Pilgrimage and Holy Space in Late Antique Egypt (Hg. D. Frankfurter; Religions in the Graeco-Roman World 134; Leiden/Boston/Köln: Brill, 1998) 303–39CrossRefGoogle Scholar, bes. 335–9, der insgesamt sechzehn Beispiele mit Bezug zu Ägypten auflistet.
27 Zu erwähnen sind etwa P.Antinoopolis 13 oder P.Fackelmann 3 – Texte für den „privaten“ Gebrauch, sofern man in der Antike von „privatem“ Gebrauch sprechen möchte.
28 Zum ungeheuren Reichtum und der Vielfalt von Kulten in Bezug auf Thekla vgl. die Beiträge in dem Band Thecla: Paul's Disciple and Saint in the East and West (Hg. J. Barrier/J.N. Bremmer/T. Nicklas/A. Puig i Tarrèch; Studies on Early Christian Apocrypha 12; Leuven: Peeters, 2016)Google Scholar. Einen Überblick über die Rezeption der antiken Paulusakten (incl. der Akten des Paulus und der Thekla) bietet zudem Pervo, R. I., The Acts of Paul: A New Translation with Introduction and Commentary (Eugene, OR: Cascade, 2014) 42–59 Google Scholar.
29 Ein schönes Beispiel hierfür zeigt sich etwa im antiken Tempel von Hermopolis, dessen Trümmer offenbar Pilgern als Beweis dafür gezeigt wurden, dass bei der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten die Götzenbilder (im Sinne von Jes 19,1) zu wanken begannen (vgl. Historia monachorum in Aegypto 8,1).
30 Zu Einleitungsfragen zu dieser Schrift, die in den vergangenen Jahren zunehmendes Interesse auf sich gezogen hat, vgl. übersichtlich F. Amsler/F. Bovon/B. Bouvier, Actes de l'apôtre Philippe (Apocryphes: Collection de Poche de l'AELAC 8; Turnhout: Brepols 1996) 13–88 Google Scholar.
31 Bardenhewer, O., Geschichte der altkirchlichen Literatur 1 (Freiburg i. Br.: Herder, 1913² [Ndr. Darmstadt: WBG, 2007]) 500Google Scholar.
32 Amsler, F., „Les Actes de Philippe: aperçu d'une competition religieuse en Phrygie“, Le mystère apocryphe: introduction à un littérature méconnue (Hg. J.-D. Kaestli/D. Marguerat; Essais Bibliques 26; Genève: Labor et Fides, 2007²) 155–70Google Scholar.
33 von Gutschmid, A., „Die Königsnamen in den apocryphen Apostelgeschichten: Ein Beitrag zur Kenntnis des geschichtlichen Romans“, Rheinisches Museum für Philologie NF 19 (1864) 161–83. 380–401, bes. 400Google Scholar.
34 Vgl. Amsler, „Competition religieuse“, 164–6.
35 Klauck, H.-J., Die apokryphe Bibel: Ein anderer Zugang zum frühen Christentum (Tria Corda 4; Tübingen: Mohr Siebeck, 2008) 137Google Scholar.
36 Genauer die knappe Einführung bei F. D'Andria, Hierapolis in Phrygien (Pamukkale): Ein archäologischer Führer (Istanbul: Yayinlari, 2010) 136–44Google Scholar.
37 Klauck, Apokryphe Bibel, 137; zur genaueren Beschreibung vgl. erneut F. D'Andria, Hierapolis, 184–91, der allerdings keinen Bezug zu den von Klauck erwähnten Inkubationsräumen herstellt. Interessanterweise diente dieses Martyrion ursprünglich der Verehrung des Philippus Diaconus, der jedoch im 5. Jh. offensichtlich mit dem Apostel Philippus verschmolzen wurde. – Als die Philippusakten selbst aufgrund ihres Enkratismus wie auch ihrer Tendenz zum Millenarismus in „orthodoxen“ Kreisen mehr und mehr als problematisch angesehen wurden, ging das mit ihnen verbundene Anliegen, verschriftete Deutung der „christlichen Erinnerungslandschaft“ in Hierapolis als bis in die apostolische Zeit zurückgehend zu bieten, nicht verloren. Einerseits entstanden „orthodox“ überarbeitete Fassungen des Textes, z.T. in einer Reihe von Übersetzungen, andererseits wurden wichtige Aspekte dieser Aufgabe auch durch einen späteren, jedoch wenig bekannten Philippustext, die Translatio Philippi, übernommen (erstmals ediert durch James, M. R., „Supplement to the Acts of Philip: Translatio Philippi“, Apocrypha Anecdota: A Collection of Thirteen Apocryphal Books and Fragments. Now First Edited from Manuscripts (Texts and Studies: Contributions to Biblical and Patristic Literature ii.3; Cambridge: Cambridge University Press, 1893) 158–63Google Scholar), der sich starker für das eigentliche Philippusgrab interessiert, welches erst vor wenigen Jahren archäologisch untersucht wurde. Weiterführend zur Translatio Philippi vgl. Amsler, F., „Le Translatio Philippi: survie ou seconde morte du Philippe?“, Apocrypha 22 (2011) 115–33Google Scholar (mit einer französischen Übersetzung des Textes).
38 Interessanterweise kann ein üblicherweise als „apokryph“ bezeichneter Text wie die syrische Doktrin des Addai sogar so weit gehen, den Kanon der syrischen Kirche für seine Zeit zu definieren. Desreumaux, Hierzu A., „Das Neue Testament in der Doctrina Addai “, Christian Apocrypha: Receptions of the New Testament in Ancient Christian Apocrypha (Hg. J.-M. Roessli/T. Nicklas; NTP 26; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014) 233–48, bes. 236–8CrossRefGoogle Scholar.
39 Bovon, F., „Beyond the Canonical and the Apocryphal Books, the Presence of a Third Category: The Books Useful for the Soul“, The Emergence of Christianity: Collected Studies iii (WUNT 319; Tübingen: Mohr Siebeck, 2013) 147–60Google Scholar, wo Bovon auch spätantike Zeugnisse für die Verwendung dieses Attributs, wie Vaticanus Graecus 455, f. 290v oder Johannes von Thessaloniki, De dormitione 1, zitiert (150 n. 17), oder ders., „Canonical, Rejected, and Useful Books“, New Testament and Christian Apocrypha (Grand Rapids: Baker, 2009) 318–22Google Scholar, sowie am Beispiel der Entwicklung von Pilgerorten, die die Wege der Heiligen Familie auf der Flucht nach Ägypten erinnern, ders., „L'enfant Jésus durant la fuite en Égypte: les récits apocryphes de l'enfance comme légendes profitables à l’âme’, The Apocryphal Gospels within the Context of Early Christian Theology (Hg. J. Schröter; BEThL 260; Leuven: Peeters, 2013) 249–70Google Scholar.
40 Diese Idee geht auf Armand Puig i Tarrèch (im Rahmen der Diskussion einer Konferenz im Mai 2015 in Barcelona) zurück.
41 Einen Schritt in diese Richtung geht St. Diefenbach, Römische Erinnerungsräume: Heiligenmemoria und kollektive Identitäten im Rom des 3.–5. Jahrhunderts n.Chr. (Millenium-Studien 11; Berlin/New York: de Gruyter, 2007)Google Scholar.
42 Nicklas, Hierzu T., „New Testament Canon and Ancient Christian ‘Landscapes of Memory’“, Early Christianity 7 (2016) 7–23 CrossRefGoogle Scholar.
43 Zur Bedeutung des Zeugnisses der Egeria für die Rekonstruktion des Aussehens des Hl. Grabes in ihrer Zeit vgl. Hahn, C., „Seeing and Believing: The Construction of Sanctity in Early-Medieval Saints’ Shrines“, Speculum 72 (1997) 1079–1106 Google Scholar, hier 1084–6. Allgemein jedoch zur These, dass antike Pilger besonderen Wert auf die visuelle Erfahrung legen, ja ihren Beschreibungen eine besondere Qualität visueller Erfahrung zugrunde liegt, vgl. Frank, G., The Memory of the Eyes: Pilgrims to Living Saints in Christian Late Antiquity (Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press, 2000) 102–33Google Scholar.
44 Hierzu mit guten Beispielen Campbell, Witness, 22–4, die schreibt: „Aesthetic judgments reflect her [Egeria's] hierarchy of values, and beauty is quality of essence, not of appearance“ (24).
45 Ich kann dieses große Thema hier nur ganz knapp andeuten – Bieberstein, K., „Jerusalem“, Erinnerungsorte des Christentums (Hg. Chr. Markschies/H. Wolf; München: C. H. Beck, 2010) 64–88 Google Scholar, hier 69–73, spricht geradezu von der „Begehbarkeit des Evangeliums“. Konkret: „Die fortgesetzte Konkretisierung biblischer Erzählungen erfolgte … nicht nur in Form von Bauten und in ihnen verehrten Reliquien, sondern auch in Form liturgischer Begehungen. So entstand, anknüpfend an die genannten Bauten und Reliquien, in byzantinischer und frühislamischer Zeit in langsamen Schritten der Brauch, diese Stätten der Erinnerung zu einem liturgischen Parcours zu verbinden, um die Passion Jesu in der Nacht vom Gründonnerstag auf Karfreitag, zeitlich und örtlich entsprechend, gemeinsam betend und singend nachzugehen“ (ebd., 69–70).
46 Wie Frank, Memory, 118–21, zeigt, lässt sich in den antiken christlichen Pilgerberichten eine Entwicklung des Interesses vom „Sehen“ zur zunehmenden Bedeutung des „Berührens“ feststellen. Für Beispiele antiker Texte, die „Sehen“ und „Berühren“ heiliger Stätten auf gleiche Ebene stellen, vgl. Cyrill von Jerusalem, Cat. 13,22 oder Paulinus von Nola, Ep. 31,4 und 49,14.
47 Hieronymus bietet hier eine Szene, die so sehr an Hilarius von Poitiers Gegen Constantius 8, Paulinus von Nola, Carm. 23.86–94 und Sulpicius Severus, Dial. 3.6.4 erinnert, dass von literarischer Abhängigkeit auszugehen ist.
48 Vgl. auch Donner, Pilgerfahrt, 139: „Zur Abrundung des Bildes ist darauf hinzuweisen, daß Hieronymus hier wie immer seine klassische Bildung hat zu Wort kommen lassen: Er erwähnt Scylla und Charibdis (7), zitiert die Aeneis des Vergil (7), verweist auf die Sage von Perseus und Andromeda (8) und erinnert sich des Raubes der Sabinerinnen (13).“
49 Übersetzung Donner, Pilgerfahrt, 143–4 (Hervorhebung Donner).
50 Vgl. Donner, Pilgerfahrt, 143 Anm. 6 und 8.
51 Interessant ist auch das Zeugnis des in Eusebius von Caesarea, h.e. 2,25,7, überlieferten Zeugnis des Gaius (laut Eusebius aus der Zeit des Zephyrinus von Rom (198–217 n.Chr.)), welches m.E. kaum vorstellbar ist, wenn nicht bereits in dieser Zeit ein Interesse am Besuch der römischen Apostelgräber geherrscht hätte: „Ich kann die Siegeszeichen der Apostel zeigen. Du magst auf den Vatikan gehen oder auf die Straße nach Ostia, du findest die Siegeszeichen der Apostel, welche diese Kirche gegründet haben.“
52 Vgl. auch Bieberstein, „Jerusalem“, 66. Der Hinweis auf Protev. Jac. 19,1–3; 21,3, in dem angeblich die Existenz einer Grotte auf dem Ölberg als „Ort der Unterweisung der Jünger durch den auferstandenen Herrn“ (66) bezeugt sei, ist falsch.
53 Die Frage, ob die Konjektur tatsächlich auf Origenes selbst zurückgeht, ist umstritten, scheint jedoch wahrscheinlich. Sollte die Lesart „Betabara“ tatsächlich auf eine von Origenes vorgefundene Lokaltradition zurückgehen, wie etwa Stowasser, M., Johannes der Täufer im Vierten Evangelium: Eine Untersuchung seiner Bedeutung für die johanneische Gemeinde (ÖBS 12; Klosterneuburg: Österreichisches Bibelwerk, 1992)Google Scholar 59 vermutet, so ist auch dies ein interessantes Zeugnis, wie sehr an tatsächliche Landschaft gebundene Tradition den biblischen Text beeinflussen kann. Ein sehr ähnliches Beispiel lässt sich anhand der Lesarten um Gadara, Gerasa und Gergesa in Mk 5,1 par. konstruieren. Baarda, Hierzu T., „Gadarenes, Gerasenes, Gergesenes and the ‘Diatessaronic’ Traditions“, Early Transmission of the Words of Jesus: Thomas, Tatian and the Text of the New Testament (Amsterdam: Uitgeverij VU, 1983) 95–101 Google Scholar.
54 Übersetzung Donner, Pilgerfahrt, 59–60; vgl. auch die entsprechenden Fußnoten.
55 Küchler, Weiterführend M., Jerusalem: Ein Handbuch und Studienreiseführer zur Heiligen Stadt (Orte und Landschaften der Bibel iv.2; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007) 852–73Google Scholar.
56 So die Vermutung von Donner, Pilgerfahrt, 60 n. 99, der vermutet, hier liege eine Verwechselung mit Apg 1,11 vor.
57 Vgl. Kraus, T. J./Nicklas, T., Das Petrusevangelium und die Petrusapokalypse: Die griechischen Fragmente mit deutscher und englischer Übersetzung (GCS NF 11; Berlin/New York: de Gruyter, 2004) 97CrossRefGoogle Scholar.
58 Übersetzung Donner, Pilgerfahrt, 246–7.
59 Vgl. Davis, S. J., Christ Child: Cultural Memories of a Young Jesus (Synkrisis; New Haven/London: Yale University Press, 2014) 139–43Google Scholar, der in diesem Band einen Gesamtüberblick über die Spuren antik-christlichen „kulturellen Gedächtnisses“ an das Kind Jesus (auch jenseits der Grenzen des „Christentums“) bietet.
60 Übersetzung U. U. Kaiser unter Mitwirkung von J. Tropper, „Die Kindheitserzählung des Thomas“, Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung: Evangelien und Verwandtes (Hg. Chr. Markschies/J. Schröter; Tübingen: Mohr Siebeck, 2012) 930–59, hier 948Google Scholar.
61 Weitere Beispiele habe ich in anderen Beiträgen diskutiert: Vgl. v.a. T. Nicklas, „Beyond ‘Canon’: Christian Apocrypha and Pilgrimage“, Apocryphal Perspectives on Orthodoxy (Hg. T. Nicklas et al.; NTOA; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht) sowie T. Nicklas, „New Testament Canon and Ancient Christian ‘Landscapes of Memory’“, Early Christianity 7 (beide im Druck).
62 Zu diesen „Objekten“ ist – über das hier Angedeutete hinaus – natürlich auch das „Bild“ zu zählen. Die Bedeutung der Ikonographie für die hier formulierten Gedanken kann natürlich hier nicht einmal ansatzweise erwogen werden.