Published online by Cambridge University Press: 05 February 2009
Die gegenwärtige Exegese nimmt mehrheitlich an, dass die johan-neische Literatur in ihrer kanonischen Form (Joh, 1 Joh, 2 Joh, 3 Joh) das Resultat eines langen Prozesses der Ausgestaltung darstellt, der sich im wesentlichen der Tatigkeit einer Schule verdankt. Diese Annahme wirft zwei Fragen auf: Wie hat die johanneische Schule die Traditionen, deren Verwalterin sie war, aufgenommen und weitergegeben? Und welcher hermeneutischer Verfahren hat sie sich bedient, um die verschiedenen Ausformun-gen dieser Traditionen zu interpretieren und zu aktualisieren? Im Sinne einer Arbeitshypothese schlagen wir vor, im Prozess der Relecture eines der wichtigsten Verfahren zu sehen, das die theo-logische Arbeit der johanneischen Schule auszeichnet. Dieser Prozess der Relecture ist keine Erfindung der johanneischen Kreise; er ist bereits sowohl im Alten Testament, insbesondere in den prophetischen Büchern,4 als auch in den paulinischen und synop-tischen Traditionen belegt. Das Ziel der folgenden Ausführungen besteht darin, die unterschiedlichen Aspekte dieser Arbeit der Relecture, die wir in der johanneischen Literatur und insbesondere im vierten Evangelium wahrnehmen, zu beschreiben.
2 Zu diesem Punkt siehe den jüngsten Beitrag dazu: Schnelle, U., ‘Die johanneische Schule’, in: Bilanz und Perspektiuen gegenwärtiger Auslegung des Neuen Testaments. Symposion zum 65. Geburtstag von Georg Strecker (hg. von F. W. Horn; BZNW 75; Berlin/New York, 1995) 198–217.Google Scholar
3 Zum Begriff der Relecture vgl. Genette, G., Palimpsestes. La littérature au second degré (collection Poétique; Paris, 1982)Google Scholar: allgemeine Definition siehe insb. 7–14. Es ist jedoch anzumerken, dass Genette nicht mit dem Begriff der Relecture, sondern mit demjenigen der Transtextualität arbeitet.
4 Vgl. Steck, o. H., ‘Prophetische Prophetenauslegung’, in: Wahrheit der Schrift – Wahrheit der Auslegung. Eine Zürcher Vorlesungsreihe zu Gerhard Ebelings 80. Geburtstag am 6. Juli 1992 (hg. von H. G. Geisser u.a.; Zürich, 1993) 198–244.Google Scholar
5 Hallyn, F./Jacques, G., ‘Aspects du paratexte’, in: Méthod.es du texte: introduction aux études littéraires (dir. par M. Delcroix/F. Hallyn; 4e tir.; Paris/Louvain-la-Neuve, 1987) 210Google Scholar (Zitat von M. Hausser).
6 Siehe dazu die beiden Studien von Hengel, M., Die Evangelienilberschriften (SHAW.PH; Heidelberg, 1984)Google Scholar; ders., Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch, mit einem Beitrag zur Apokalypse von J. Frey (WUNT 67; Tübingen, 1993) 204–9.Google Scholar
7 Diese Bemerkung wird durch die folgende textkritische Beobachtung unterstüzt, welche die frühe Verbreitung des Joh in Ägypten beweist. Aller Wahrscheinlichkeit nach stammen die Papyri 52, 66 und 90, die alle Auszüge aus der joh Passionsgeschichte enthalten, aus dem 2. Jh. ‘Diese dreifache Bezeugung eines neutestamentlichen Textes aus dem 2. Jahrhundert ist einzigartig’, schreibt zu Recht Aland, K., ‘Der Text des Johannes-Evangeliums im 2. Jahrhundert’, in: Studien zum Text und zur Ethik des Neuen Testaments (FS H. Greeven; hg. von W. Schrage; BZNW 47; Berlin/New York, 1986) 1.Google Scholar
8 Hallyn/Jacques, ‘Aspects du paratexte’, 204 (s. Anm. 5).
9 Vgl. Hengel, Evangelienüberschriften, 33–40 (s. Anm. 6).
10 Vgl. Hengel, Evangelienüberschriften, 8–28 (s. Anm. 6). Strecker, G., Literaturgeschichte des Neuen Testaments (UTB 1682; Göttingen, 1992) 123–8Google Scholar bietet eine Bibliographie dazu und den Stand der Diskussion an.
11 Vgl. Hengel, Frage, 208–9 (s. Anm. 6).
12 Diese dritte Funktion der Überschrift wirft die sogenannte ‘johanneische Frage’ auf. Allerdings ist es im Rahmen dieses Aufsatzes, der literaturwissenschaftlich orientiert ist, weder möglich noch angebracht, diesen historischen Streitpunkt zu diskutieren.
13 Steck, ‘Prophetenauslegung’, 199–205 (s. Anm. 4).
14 Zum Verhältnis zwischen dem ersten und dem zweiten Thessalonicherbrief vgl. Trilling, W., Der zweite Brief an die Thessalonicher (EKK 14; Zürich u.a., 1980) 21–32Google Scholar; ders., Untersuchungen zum 2. Thessalonicherbrief (EThSt 27; Leipzig, 1972)Google Scholar. Stand der Diskussion bei Schnelle, U., Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830; Göttingen, 1994) 365–77Google Scholar. Ein ähnliches Phänomen der Relecture stellt das Verhältnis zwischen dem Kol und dem Eph dar.
15 Vgl. Klauck, H.-J., Die Johannesbriefe (EdF 276; Darmstadt, 1991) 55–6Google Scholar, im Gefolge von Piper, O. A., ‘John and the Didache of the Primitive Church’, JBL 66 (1947) 437–51Google Scholar; Vouga, F., Die Johannesbriefe (HNT 15/3; Tübingen, 1990) 9–11.Google Scholar
16 Bestandesaufnahme der Diskussion bei Klauck, Johannesbriefe, 68–74 (s. Anm. 15). Siehe insb. Brown, R. E., The Epistles of John (AncB 30; New York, 1982) 86–92.Google Scholar
17 Vgl. etwa den Titel, der 1 Joh seit dem 2. Jh. gegeben wurde; vgl. auch den Kanon Muratori (vgl. Klauck, Johannesbriefe, 22ff. [s. Anm. 15]) oder auch die Notiz zu Papias und 1 Joh bei Euseb Hist.Eccl. 3.39.17.
18 Ein gewisser Konsens herrscht über die Reihenfolge Joh-1 Joh. Die einzigen erwähnens-werten Ausnahmen: Strecker, G., ‘Die Anfänge der johanneischen Schule’, NTS 32 (1986) 31–47CrossRefGoogle Scholar; Schnelle, U., Antidoketische Christologie im Johannesevangelium. Eine Untersuchung zur Stellung des vierten Evangeliums in der johanneischen Schule (FRLANT 144; Göttingen, 1987) 65–83CrossRefGoogle Scholar; ders., Einleitung, 500, 503–4, 519–22 (s. Anm. 14). Eine ausführliche Diskussion der Problematik findet sich bei Brown, Epistles, 30–5 (s. Anm. 16).
19 An diesem Punkt der Argumentation verdient eine Beobachtung Aufmerksamkeit. Die Tatsache selbst, dass in der johanneischen Schule eine neue literarische Gattung entsteht, besagt, dass das Evangelium – trotz der verschiedenen Redaktionen, denen es unterzogen wurde – nicht mehr für Verbesserungen und Ergänzungen empfänglich war. Es stellt von nun an einen geschlossenen Text dar, es nimmt den Rang einer Schrift ein.
20 Diskussion bei Klauck, Johannesbriefe, 88–99 (s. Anm. 15). Vgl. insbesondere Conzelmann, H., ‘“Was von Anfang war”’, in: ders., Theologie als Schriftauslegung (BEvTh 65; Mün-chen, 1974) 207–14Google Scholar; Klein, G., ‘“Das wahre Licht scheint schon.” Beobachtungen zur Zeit- und Geschichtserfahrung einer urchristlichen Schule’, ZThK 68 (1971) 261–326.Google Scholar
21 Die These, wonach das Evangelium und die Briefe das Werk eines einzigen Autors seien (so Hengel, Frage, 306–25 [s. Anm. 6]), verkennt die dialektische Beziehung zwischen Joh und den joh Briefen. Das ist aber auch der Fall, wenn behauptet wird, die joh Briefe verräten die theologische Auffassung des Joh (Stand der Diskussion bei Lohse, E., Grundriss der neutestamentlichen Theologie [ThW 5; Stuttgart u.a., 1974] 142–4)Google Scholar. Zum ganzen Problem siehe Brown, Epistles, 14–30 (s. Anm. 16).
22 Mit dem Begriff der Rekontextualisierung wird der franzosische Begriff der recadrage wiedergegeben.
23 Vgl. Klauck, Johannesbriefe, 94–7 (s. Anm. 15); ders., Der erste Johannesbrief (EKK 23/1; Zürich u.a., 1991) 54–78Google Scholar; Brown, Epistles, 151–87 (s. Anm. 16).
24 Vgl. Klauck, Der erste Johannesbrief, 120–4 (s. Anm. 23); Brown, Epistles, 264–7 (s. Anm. 16).
25 Zum Ausdruck άπ' άρχ⋯ς vgl. Conzelmann, ‘Anfang’ (s. Anm. 20); Brown, Epistles, 97–100 (s. Anm. 16).
26 Hallyn/Jacques, ‘Aspects du paratexte’, 202 (s. Anm. 5).
27 Zum Verhältnis zwischen dem Prolog und dem Korpus des Evangeliums siehe meinen Artikel ‘Le prologue, seuil du quatrième évangile’, RSR 83 (1995) 217–39.
28 Hallyn/Jacques, ‘Aspects du paratexte’, 210–11 (s. Anm. 5). Die vollständige Passage auf französisch lautet folgendermassen: ‘Un discours préfaciel peut viser à imposer un sens à l'œuvre, à y faire voir le résultat d'une production orientée, fût-ce obscurément, vers l'énonciation de ce sens. Plus modestement, sa fonction peut consister à repragmatiser le discours écrit, ce message en lui-même essentiellement dépragmatisé. Dans les deux cas, le prédiscours est un instrument de contrôle du décodage. II dirige la lecture, déTend le texte contre l'incom-préhension et les interprétations erronées. Protégeant un orphelin, il supplée a l'absence du père de l'écrit, évoquée déjà par Platon.’
29 Vgl. D. E. Smith, ‘Narrative Beginnings in Ancient Literature and Theory’, Semeia 52 (1990) 33, 41; Aristoteles Rhetorik 3.14.12–19, 22–5.
30 Der metareflexive Charakter des Prologs wird nachdrücklich hervorgehoben von Theobald, M., Die Fleischwerdung des Logos. Studien zum Verhältnis des Johannesprologs zum Corpus des Evangeliums und zu 1 Joh (NTA.NF 20; Münster, 1988) insb. 296–399, 438–93.Google Scholar
31 Zum mythologischen Charakter des Prologs und dessen Interpretation vgl. zuletzt Weder, H., ‘Der Mythos vom Logos (Johannes 1)’, in: ders., Einblicke ins Evangelium. Exegetische Beiträge zur neutestamentlichen Hermeneutik (Göttingen, 1992) 401–34.Google Scholar
32 Ein Inventar findet sich in meinem Artikel ‘Prologue’, 220–2 (s. Anm. 27).
33 Der Begriff der dramatischen Handlung entspricht dem französischen Begriff ‘intrigue’ und dem englischen ‘plot’.
34 Der Begriff der Verdoppelung Gottes (dédoublement de Dieu) wurde zuerst von P. Beau-champ vorgeschlagen; vgl. Léon-Dufour, dazu X., Lecture de Iévangile selon Jean (chapitre 1–4) (Parole de Dieu; Paris, 1988) 1.59.Google Scholar
35 Zu Joh 21 siehe meinen Artikel ‘La rédaction finale de l'éVangile selon Jean (à l'exemple du chapitre 21)’, in: ders., Miettes exégétiques (MoBi 25; Genève, 1991) 253–79.Google Scholar
36 Genette, G., Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe (Aesthetica; edition suhrkamp. NF 683; Frankfurt am Main, 1993) 280Google Scholar (das französische Original: Palimpsestes, 231 [s. Anm. 3]).
37 Stand der Forschung und wichtigste Literatur bei Becker, J., Das Euangelium nach Johannes. Kapitel 11–21 (ÖTBK4/2; 3. Aufl.; Gütersloh/Würzburg, 1991) 758–60Google Scholar; Schnacken-burg, R., Das Johannesevangelium. Kommentar zu Joh 13–21 (HThK 4/3; Freiburg u.a., 1975) 406–17Google Scholar; Schnelle, Einleitung, 555–6 (s. Anm. 14).
38 Zu der johanneischen Schule und ihrer interpretatorischen Arbeit vgl. Becker, J., Das Euangelium nach Johannes. Kapitel 1–10 (ÖTBK 4/1; 3. Aufl.; Gütersloh/Würzburg, 1991) 47–50Google Scholar (Stand der Diskussion und Literatur). Andere Arbeitsweisen der johanneischen Schule werden z.B. in den folgenden Artikeln dargestellt: Becker, J., ‘Joh 3,1–21 als Reflex johan-neischer Schuldiskussion’, in: Das Wort und die Wörter (FS G. Friedrich; hg. von H. Balz/ S. Schulz; Stuttgart, 1973) 85–95Google Scholar; Schnelle, ‘Johanneische Schule’ (s. Anm. 2).
39 Das Phänomen lässt sich allerdings auch auf der vorredaktionellen Ebene beobachten.
40 Vgl. Schnackenburg, R., Das Johannesevangelium. Einleitung und Kommentar zu Kap. 1–4 (HThK4A; 3. Aufl.; Freiburg u.a., 1972) 36, 44, 60.Google Scholar
41 Zur Entstehungsgeschichte der Tempelreinigung vgl. Becker, Evangelium nach Johannes, 1.144–50 (s. Anm. 38); Bultmann, R., Das Evangelium des Johannes (KEK 2; 10. Aufl.; Göttingen, 1964) 85–6Google Scholar; Schnackenburg, Johannesevangelium 1.359–60 (s. Anm. 40).
42 Vgl. die klassische Hypothese von Bultmann, Evangelium des Johannes, 355–65 (s. Anm. 41). Vgl. auch ihre Aufnahme und Weiterführung bei Becker, Evangelium nach Johannes, 2.497–512 (s. Anm. 37); Schnackenburg, Johannesevangelium, 3.7–15 (s. Anm. 37).
43 Es lässt sich allerdings fragen, ob Joh 5.31–47 noch zum Prozess der Relecture im strengen Sinne gehört.
44 Zu der interpretatorischen Bewegung in Joh 6 vgl. H. Weder, ‘Die Menschwerdung Gottes. Überlegungen zur Auslegungsproblematik des Johannesevangeliums am Beispiel von Joh 6’, in: ders., Einblicke, 363–400 (s. Anm. 31).
45 Die zweite Wundergeschichte sollte als Bestandteil des narrativen Konzepts von Joh 6 verstanden werden, auch wenn es sich dabei nicht um eine Relecture der Brotvermehrung im strengen Sinn handelt.
46 Vgl. Dettwiler, A., Die Gegenwart des Erhöhten. Eine exegetische Studie zu den johanneischen Abschiedsreden (Joh 13,31–16,33) unter besonderer Berücksichtigung ihres Relecture-Charakters (FRLANT 169; Göttingen, 1995)CrossRefGoogle Scholar. Eine synthetische Darstellung des Phänomens der Relecture ist auf den S. 44–52 zu finden.
47 Zu diesem Aspekt vgl. meine forschungsgeschichtliche Stellungnahme in ‘Rédaction finale’, 257–8 (s. Anm. 35).
48 48 Vgl. Dettwiler, Gegenwart, 219–20, 278 (s. Anm. 46).
49 Vgl. Dettwiler, Gegenwart, 278–92 (s. Anm. 46).
50 Zu diesem wichtigen Aspekt vgl. Weder, Menschwerdung, 369 (s. Anm. 44).
51 Vgl. meinen Artikel ‘Mémoire et relecture pascale dans l'évangile selon Jean’, in: ders., Miettes exégétiques (MoBi 25; Genève, 1991) 299–316.Google Scholar
52 Die Verbindung ‘Erinnern – Ostern’ lässt sich wie folgt belegen: Joh 2.22: έγείρεν έκ νεκρ⋯ν — μιμνῄσκεσθαι; Joh 12.16: δοξάζεσθαι — μιμνῄσκεσθαι; Joh 20.9: είδέναι — ⋯κ νεκρŵν ⋯ναστ⋯ναι.
53 Auffallend ist die Tatsache, dass das Verbum μνημονεύειν fast ausschliesslich auf die Worte des johanneischen Christus zurückverweist (Joh 15.20; 16.4). Dasselbe gilt für das johanneische hapaxlegomenon ὑπομιμνῄσκειν (Joh 14.26).
54 Das fünfte Paraklet-Wort (Joh 16.13–15) redet zvvar nicht ausdrücklich vom παράκλητος, sondern von ‘jenem’ πνε⋯μα τ⋯ς ⋯ληθείας. Dass aber dabei dieselbe Grösse wie in Joh 16.7–11 gemeint ist, dürfte unbestritten sein: Zum einen nimmt das Demonstrativpronomen ⋯κεῖνος von V. 13 auf das vorausgehende ⋯κεῖνος von V. 8 Bezug, zum anderen machen Joh 14.16–17 und 15.26 deutlich, dass der Ausdruckπνε⋯μα τ⋯ς ⋯ληθείας als Naherbestimmung des Aus-drucks παράκλητος zu verstehen ist.
55 Es wäre hier angebracht, die Beziehung zwischen dem Parakleten und dem Lieblings-jünger zu klären, denn auch der Lieblingsjünger ist auf seine Weise ein handelndes Subjekt der Relecture der Tradition Jesu.