Published online by Cambridge University Press: 27 May 2021
Was ist das Moderne an der Zivilisation?
ES HAT IM DEUTSCHEN seit dem 19. Jahrhundert eine unglückliche Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation gegeben. Das hatte seinen Grund in der Auseinandersetzung mit Frankreich und dem Misslingen einer Revolution in Deutschland, die nach dem Vorbild der französischen Revolution die Überwindung des Ancien Régime, also der feudalistischen Herrschaftsordnung gebracht hätte. Das nationale Selbstbewusstsein in Deutschland bildete sich infolgedessen im Stolz auf die Kultur, worunter man vor allem Musik, Literatur und Bildung verstand. Davon wurde Zivilisation abgesetzt als die äußerliche Regelung des Lebens durch Politik, Gesellschaftsordnung und Wirtschaft. Obgleich diese Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation mit guten Gründen kritisiert wurde, möchte ich hier von ihr ausgehen, zumal sie wohl auch der Goethe’schen Perspektive angemessen ist.
Goethe lebte nicht in der modernen Zivilisation. Er war ein konservativer Gegner von Revolutionen und er war als Beamter des Weimarer Staates dem Feudalsystem treu verbunden. Er beobachtete jedoch mit äußerster Sensibilität, was er an moderner Zivilisation außerhalb Deutschlands wahrnehmen konnte und was sich bereits zu seinen Lebzeiten auch in Deutschland abzeichnete. Diese Moderne nahm er eher als Bedrohung wahr, eine Wahrnehmung, die gleichwohl bei ihm auch den Blick auf das Bestehende, also auf die traditionellen Lebensformen veränderte. Wenn man aus dieser Verbindung von Kritik und veränderter Sichtweise Goethe zum Autor einer anderen Moderne stilisieren will, so stützt sich diese These fast ausschließlich auf seinen Gedanken einer universalen Literatur, also einen Bereich, der als kultureller von unserer Betrachtung gerade ausgeschlossen wird.
Es wäre natürlich wünschenswert, für diese Betrachtung einen expliziten Begriff von moderner Zivilisation voraussetzen zu können. Da ein solcher Begriff fehlt, werden wir umgekehrt verfahren, d.h. aus Goethes kritischer Wahrnehmung traditioneller Lebensverhältnisse Grundzüge moderner Zivilisation entwickeln. Damit ergeben sich folgende Themen, die hier einleitend skizziert seien:
1. Die imaginäre Gesellschaft
Es entsteht ein Bewusstsein, nach dem die gesellschaftlichen Verhältnisse und der Status des Einzelnen von den konsentierten Vorstellungen aller Gesellschaftsmitglieder abhängen. Gesellschaftliche Verhältnisse werden nicht mehr als natur- oder gottgegeben akzeptiert. Man kann das auch Entsubstanzialisierung nennen.
2. Geldpolitik Mit der Erfindung des Papiergeldes entsteht ein abstrakter Markt, aber auch eine staatliche Wirtschaftspolitik, die schließlich zum Keynesianismus führen sollte. Die staatliche Regelung der Geldverhältnisse ist ein erstes Beispiel für das, was man im Englischen policy nennt, d.h. strategisches Handeln des Staates gegenüber der Gesellschaft.
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